Genehmigter Auszug aus "Rundbrief für Freunde und Mitglieder" Ausgabe 106 vom 12. Dezember 2013 - Kontakt: www.denkendorfer-kreis.de

Der → Oberrabbiner von Großbritannien versteht es, seine Auslegungen der Schrift so zu gestalten, dass die Leser sich unwillkürlich die Frage stellen: Wie verhalte ich mich da? Ist das auch meine Art, auf die Tora zu hören? Und wie kann ich sie in mich aufnehmen?
Der Rabbiner spricht von einer „Liebesbeziehung zwischen einem Menschen und einem Buch“ –ist das nicht stark übertrieben? Andererseits, an der Beobachtung ist ja etwas dran: Es gibt einen Umgang mit der Bibel, an dem man merkt, wie man sie schätzt!
Im Rundbrief 102 vom 17. Februar 2012 brachten wir einen ausführlichen Artikel von Jonathan Sacks über → Tora vom Himmel. Heute folgt eine kürzere, aber ebenfalls sehr anregende Lernstunde über eine Seite der Tora, die christlichen Lesern, und da vor allem Theologen, reichlich fremd sein dürfte. – Es ist einfach spannend, mit Juden Tora zu lernen, selbst wenn es über einen schriftlichen Text geschieht!

Diese „Ansprache zu einem Wochenabschnitt“ haben wir aus dem österreichischen katholischen Rundbrief „Dialog—Du Siach“ vom Oktober 2013 übernommen. Wir grüßen unsere österreichischen Kollegen in Wien herzlich und danken ihnen für diese „Ausleihe“! . . . Hartmut Metzger

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    Die Tora als Gottes Lied
    Von Jonathan Sacks

Chief Rabbi Jonathan Sacks Foto: coopermiall

Chief Rabbi Jonathan Sacks Foto: coopermiall

Am Ende seines Lebens, nachdem er den Israeliten auf Gottes Geheiß 612 Gebote gegeben hatte, wird Mose angewiesen, ihnen das letzte zu geben, das 613. Gebot:

    Darum schreibe nun für dich selbst dieses Lied nieder, und lehre es das Volk Israel; lege es ihnen in den Mund, dass dieses Lied mein Zeuge sei innerhalb des Volkes Israel. (5. Mose 31,19)

Nach dem Wortsinn des Verses spricht Gott zu Mose und Josua und bezieht sich auf das Lied im folgenden Kapitel: „Hört, ihr Himmel, ich will reden; die Erde höre die Worte aus meinem Munde.“
Die mündliche Überlieferung gab diesem Vers jedoch eine andere, noch viel weiter greifende Auslegung, indem sie ihn als Gebot an jeden Juden verstand, ebenfalls zu schreiben – oder zumindest am Schreiben einer Sefer Tora, einer Schriftrolle des Gesetzes, teilzunehmen:

    Rabba sagte: Obwohl unsere Vorfahren uns eine Schriftrolle der Tora hinterlassen haben, ist es unsere religiöse Pflicht, eine solche für uns selbst zu schreiben, wie es heißt: „Und nun schreibe dieses Lied und lehre es die Menschen in Israel; tue es in ihren Mund, dass dieses Lied mein Zeugnis sei gegen das Volk Israel.“ (Sanhedrin 21b).

Die Logik der Interpretation scheint zunächst zu sein, dass die Wörter „schreibe nun für dich selbst“ so verstanden werden, dass dies sich auf jeden Israeliten bezieht (so Ibn Ezra), und nicht nur auf Mose und Josua.
Zum Anderen heißt es an dieser Stelle weiter (31,24): „Mose vollendete sein Schreiben in dem Buch die Worte dieses Gesetzes von Anfang bis zum Ende.“ Der Talmud (Nedarim 38a) bietet einen dritten Grund. Weiter heißt es in diesem Vers, „dass dieses Lied mein Zeuge sei innerhalb des Volkes“ – was die Tora als Ganzes einschließt, nicht nur das Lied im 32. Kapitel.

Es ist etwas Poetisches darin, dass dies das letzte der Gebote ist. Es ist, als ob Gott den Israeliten sagt: „Es ist nicht genug, dass ihr die Tora von Mose empfangen habt. Ihr müsst sie in jeder Generation neu machen.“
Der Bund sollte nie alt werden. Er musste regelmäßig erneuert werden.

Eine Liebesbeziehung zwischen einem Menschen und einem Buch
So ist es bis zum heutigen Tag, dass noch immer Tora-Rollen wie in alten Zeiten von Hand auf Pergament mit einem Federkiel geschrieben werden – wie vor zweitausend Jahren die Schriftrollen vom Toten Meer. In einer Religion, die fast keine sakralen Gegenstände kennt (wie Ikonen, Reliquien), ist die Tora-Rolle das, was im Judentum der Heiligkeit eines Gegenstands am nächsten kommt, und das ist eine Untertreibung.

Die Tora wird allerdings weniger als ein Gegenstand denn als eine Person angesehen. In ihrer Gegenwart stehen wir, als ob sie ein König wäre. An Simchat Tora tanzen wir mit ihr, als ob sie eine Braut wäre. Wird die Torarolle beschädigt oder gar zerstört, Gott bewahre!, beerdigen wir sie, als ob sie ein Mensch wäre; wir trauern, als ob wir eine Verwandte verloren hätten.
Das Judentum ist die Geschichte einer Liebesbeziehung zwischen einem Menschen und einem Buch, dem Buch der Bücher.

Die Tora ist Poesie
Was aber – wenn wir das Gebot auf die ganze Tora und nicht nur auf ein Kapitel beziehen – ist die Bedeutung des Wortes „Lied“ [schiraSchabbat Schira]: „Schreibe nun für dich selbst dieses Lied nieder“? Das Wort schira erscheint fünfmal in diesem Abschnitt. Es ist eindeutig ein Schlüsselwort. Inwiefern? Dafür hatten zwei Gelehrte des 19. Jahrhunderts markante Erklärungen.

Netziv (R. Naftali Zvi Jehuda Berlin) legte es so aus, dass die ganze Tora als Poesie, nicht als Prosa zu lesen sei (das Wort schira bezeichnet im Hebräischen sowohl ein Lied als auch ein Gedicht). Ohne Frage ist der Großteil der Tora in Prosa geschrieben, aber, so argumentiert Netziv, sie enthält immer zwei Merkmale der Poesie. Erstens geht es in ihr um Andeutungen statt um Eindeutigkeiten. Es bleibt in ihr mehr ungesagt als ausgesagt wird. Zweitens, wie in der Poesie, weisen ihre Andeutungen auf tiefere Ebenen von Bedeutung hin, manchmal durch Verwendung eines ungewöhnlichen Wortes oder Satzbaus.
Beschreibende Prosa trägt und hält Bedeutung auf der Oberfläche. Nicht so die Poesie und die Tora. (Kidmat Davar, das Vorwort zu Ha’amek Davar, 3).

In dieser brillanten Einsicht nimmt Netziv einen der großen Essays des 20. Jahrhunderts über biblische Prosa voraus, Erich Auerbachs „Odysseus’ Scar“ (Die Narbe des Odysseus). Auerbach kontrastiert die Erzählweise von Genesis (1. Mose) mit der Homers. Homer nutzt blendend detaillierte Beschreibungen, so dass jede Szene bildlich dargestellt ist, als ob in der Sonne gebadet.
Im Gegensatz dazu ist biblische Erzählung sparsam, abgeschwächt und untertrieben. Als Beispiel zitiert Auerbach die Geschichte der Bindung (Opferung) Isaaks – wir erfahren nicht, wie die Hauptfiguren aussehen, was sie fühlen, was sie an Kleidung tragen, wie die Landschaften aussehen, die sie durchwandern:

    Nur die entscheidenden Punkte der Erzählung werden hervorgehoben, was da¬zwischen liegt, existiert nicht. Zeit und Ort sind unbestimmt und fordern zur Auslegung auf; Gedanken und Gefühle bleiben unausgesprochen und sind durch Schweigen und fragmentarisches Reden zu erahnen; das Ganze ist durchsetzt von ungelöster Spannung und auf ein einziges Ziel gerichtet … es bleibt geheimnisvoll.

Ein ganz anderer Aspekt ist von R. Yechiel Michal Epstein, Autor des halachischen Kodex Aruch ha-Schulchan (Choschen Mischpat, Einführung), angedeutet. Epstein weist darauf hin, dass die rabbinische Literatur voller Argumente ist, über die die Weisen sagten: „Diese und jene sind die Worte des lebendigen Gottes.“
Dies, sagt Epstein, ist einer der Gründe dafür, dass die Tora wie „ein Lied“ ist – weil ein Lied immer schöner wird, wenn es für viele Stimmen, in komplexen Harmonien verwoben, gesetzt wird.

Die Erneuerung der Tora in jeder Generation
Ich würde noch eine dritte Dimension hinzufügen. Beim 613. Gebot geht es nicht einfach nur um die Tora, sondern um die Pflicht, die Tora in jeder Generation zu erneuern.
Um die Tora neu lebendig zu machen, genügt es nicht, sie nur kognitiv, als bloße Geschichte und als Recht zu lesen. Sie muss zu uns sprechen, affektiv und emotional.

Das Judentum ist eine Religion der Worte, und doch, wenn immer die Sprache des Judentums sich auf die geistliche Ebene erhebt, bricht sie in Gesang aus, als ob die Worte selbst Ausflucht suchten aus der Schwerkraft der endlichen Bedeutungen. Es Liegt etwas in einer Melodie, die eine Wirklichkeit deutet, die außerhalb unserer Reichweite liegt, was William Wordsworth beschrieb, als den „sublimen Sinn / mit etwas viel Tieferem vermischt / dessen Wohnung das Licht von untergehenden Sonnen ist / und der runde Ozean und die lebendige Luft.“

Worte sind die Sprache der Vernunft. Musik ist die Sprache der Seele.

Musik steht im Mittelpunkt der jüdischen Erfahrung. Wir beten nicht, wir dawnen, was bedeutet, wir singen die Worte, die wir zum Himmel richten. Wir lesen die Tora nicht, sondern wir singen die wöchentliche „Lesung“, jedes Wort mit seiner eigenen Kantabilität. Auch rabbinische Texte werden nie nur studiert, wir singen sie mit dem besonderen Sing¬sang, den alle Studenten des Talmuds kennen. Jede Zeit und jeder Text hat ihre bzw. seine spezifischen Melodien. Das gleiche Gebet kann mit einem halben Dutzend verschiedener Melodien gesungen werden, je nachdem, ob es Teil des morgendlichen, nachmittäg¬lichen oder abendlichen Gottesdienstes ist, und ob es sich um einen Wochentag oder den Schabbat, um ein Fest oder um einen der Hohen Feiertage handelt. Es gibt verschiedene Kantabilitäten für biblische Lesungen, je nachdem, ob der Text aus einem der Mosebücher, der prophetischen Literatur oder den Ketubim, den „Schriften“, stammt.
Musik ist die „Landkarte“ des jüdischen Geistes, und jede geistliche Erfahrung hat ihre eigene, unverwechselbare, melodische Tonalität.

Das 613. Gebot – die Tora in jeder Generation zu erneuern – symbolisiert die Tatsache, dass, obwohl die Tora einmal gegeben wurde, sie viele Male in Empfang genommen werden muss, wie jeder Einzelne von uns, durch unser Studium und unsere Arbeit bestrebt sein muss, die makellose Stimme vom Berg Sinai zu hören.

Das fordert auch das Gefühl, nicht nur den Intellekt. Es bedeutet, die Tora nicht nur als Worte zu lesen, sondern auch als Melodie zu singen. Die Tora ist Gottes Libretto, und wir, das jüdische Volk, sind Sein Chor, die Interpreten Seiner Choral-Symphonie.

Und obwohl Juden oft argumentieren und streiten, wenn sie miteinander reden, wenn sie singen, singen sie in Harmonie, so wie die Israeliten am Roten Meer; denn Musik ist die Sprache der Seele.

Auf der Ebene der Seele treten die Juden ein in die Einheit des Göttlichen, die die Gegensätze niederer Welten transzendiert.

Die Tora ist Gottes Lied, und gemeinsam sind wir ihre Sänger.
Schabbat Schalom.

 

Ansprache zum Wochenabschnitt Nitzavim-Vajelech, 31. August 2013, 25. Ellul 5773.
Jonathan Sacks ist Oberrabbiner des Vereinigten Königreichs.
Übersetzung: Fritz Voll

Eric Martienssen

Seit meinem Kirchenaustritt 2009 spüren meine jüdisch-orthodoxen Freunde in Israel und ich in Artikeln und höchst politischen Schabbat-Kommentaren auf GSI (God's Sabbath Int.) den Fake News Roms nach.

Der damalige Pontifex zerstörte die Wohnung Gottes, den Tempel in Jerusalem - Fakt! War das Neue Testament und die Kirche nur eine Weltmacht strategische Geschäftsidee Roms? Was ist Politik heute? Viel Freude bei Ihrer Reise auf GSI.