Genehmigter Auszug aus "Rundbrief für Freunde und Mitglieder" Ausgabe 102 vom 17. Februar 2012 - Kontakt: www.denkendorfer-kreis.de

Der folgende Beitrag knistert vor Spannung. Dabei scheinen die Themen nicht besonders interessant zu sein: Unterschiede zwischen jüdischem und christlichem Bibelverständnis; ein Text – zwei Bücher; Kultur des Sehens – Kultur des Hörens; Offenbarung im Judentum; die Tora ist nicht im Himmel; usw.
Der Autor, Jonathan Sacks, ist Oberrabbiner der „United Hebrew Congregations of the Commonwealth“. Er wird der so genannten „Neo-Orthodoxie“ zugerechnet; doch er ist alles andere als nur der Vertreter einer bedeutenden religiösen Strömung im Judentum unserer Zeit. Zuerst und zuletzt ist er Jonathan Sacks, ein leidenschaftlicher Rabbiner, der temperamentvoll und mitreißend seine Zuhörer in die „Kultur des Judentums“ einführt.
Sie haben richtig gelesen: „seine Zuhörer“! An vielen Stellen merkt man, dass dieser Artikel der Text einer Rede und nicht der Text einer „Schreibe“ ist. Auch der Leser heute fühlt sich als Hörer angesprochen; Jonathan Sacks zieht ihn zur Exegese von Bibelstellen heran, konfrontiert ihn mit Problemen, stellt ihm Fragen und wartet gleichsam auf eine Antwort; kurz: er will, dass seine Hörer sich auf einen Dialog einlassen, Widerspruch eingeschlossen, und im Hören und Antworten „Tora lernen“.

(Erlauben Sie mir eine kleine Nebenbemerkung. Wenn Sie Zeit haben und ungestört sind, könnten Sie dem Text die Ehre antun, ihn laut – oder halblaut – zu lesen. Das „Hören“ ist auch bei geschriebenen Texten sehr wichtig. Manche Beobachtung erschließt sich da, auf die man sonst vielleicht nicht geachtet hätte.)

Die Quelle ist noch anzugeben! In „Begegnungen – Zeitschrift für Kirche und Judentum“ (NR. 2, 2011) veröffentlichte der Herausgeber Wolfgang Raupach-Rudnick diese Rede des britischen Oberrabbiners, die er aus dem Englischen übersetzt hat. Wir danken ihm für die Abdruckerlaubnis und schicken ihm herzliche Grüße nach Hannover. Hartmut Metzger

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    Tora vom Himmel
    [Ein himmlisch-irdisches Drama beim Lernen der Tora]
    Von Jonathan Sacks

Freunde, wie es meine Gepflogenheit ist, will ich mit einer Geschichte beginnen. Neulich hörte ich eine wundervolle Geschichte von einem Gemüsehändler in der Lower East Side in New York, der sich bei einem Freund darüber beklagte, dass seine Geschäfte nicht gut liefen. Der Freund sagte: „Pass auf! Du lebst in einer jüdischen Nachbarschaft. Mach was, um die jüdischen Kunden ins Geschäft zu holen! Stell ein Schild auf: Frische Früchte aus Israel!“
Das tat er, und er zog viele Kunden an. Nach einer Woche entschied er sich, die Sache noch besser anzugehen, und er stellte ein Schild auf: „Frische Früchte aus Jerusalem!“ Und es kamen noch mehr Kunden. In der folgenden Woche wollte er es noch besser anpacken, und er stellte ein Schild auf: „Frische Früchte von der Klagemauer!“
Wieder nach einer Woche kam sein Freund herein und fragte: „Wie ist es gelaufen?“ Er sagte: „Fürchterlich! Alle kamen herein, küssten die Früchte und gingen wieder.“

Sie wissen, dass ich diese Art der Frömmigkeit, die Klagemauer zu küssen, respektiere, aber ich habe in meinen Vorträgen versucht, eine andere Art von Frömmigkeit zu skizzieren, die es uns erlaubt, unsere Vernunft und Intelligenz anzusprechen.

Heute Abend werde ich eine Fülle von Ideen äußern. Das bedaure ich, aber anders geht es angesichts dieses Themas nicht. Wenn meine früheren Vorträge so etwas wie Kapitel waren, sind sie heute Abend gleichsam ein ganzes Buch.
Lassen Sie mich mit einem Drama beginnen, es ist ein Drama in zwei Akten. Sie spielen am gleichen Ort, aber sind etwa 500 Jahre voneinander getrennt.
Szene 1: Berg Sinai, auch als Berg Horeb bekannt. Die Israeliten sind am Fuß des Berges versammelt. Gott spricht, und dann folgt ein einzigartiger Augenblick, nicht nur in der jüdischen Geschichte, sondern in der religiösen Geschichte der Menschheit überhaupt. Es ist das einzige Mal, dass von Gott gesagt wird, er rede zu einem ganzen Volk. Es gibt Donner, Blitz, das Dröhnen des Schofarhorns – und das Volk fürchtete sich, und sie zitterten, und sie standen entfernt. Und sie sagten zu Mosche Rabbenu: „Geh du und sprich mit Gott! Wenn wir weiter seine Stimme hören, werden wir sterben.“

Ein späterer Kommentar zu diesem Augenblick, den Sie alle kennen werden – wir sprechen ihn am Freitagabend vor „Lecha Dodi“ – ist Psalm 29. Er ist ein Kommentar zu diesem Augenblick: „Kol haSchem schover arasim vajeschabber haSchem et arsei haLevanon“ [d. h. „die Stimme des Ewigen zertrümmert Zedern, und es zertrümmert der Ewige die Zedern des Libanon]. Die überwältigende Gegenwart der Stimme!
Szene 2: 500 Jahre später. Jetzt ist es Elia, der am Berg Horeb steht, auf dem einst Mose stand (1. Könige 19). Elia sieht einen Wirbelsturm, der die Berge zerreißt und die Felsen zerbricht, aber Gott ist nicht im Wind. Und dann gibt es ein heftiges Erdbeben, aber Gott ist nicht im Erdbeben. Dann sieht er ein Feuer, aber Gott ist nicht im Feuer. Schließlich hört er eine „Kol demama daka“ – und dort ist Gott.
„Kol demama daka“ wird normalerweise als „stille, leise Stimme“ übersetzt. Eine genauere Übersetzung würde lauten: „der Ton einer leisen Stimme“.
Aber meine Übersetzung ist anders. Was ist kol demama daka? Eine Stimme, die man nur vernehmen kann, wenn man genau hinhört! Das ist das Drama der „tora min haschamajim“, der „Tora vom Himmel“. Diese mächtige Offenbarung zu Beginn unserer kollektiven Geschichte zwingt uns nicht länger mit blanker Gewalt, sondern wird stattdessen zu einer Stimme, der wir zuhören müssen, wenn wir sie überhaupt vernehmen wollen. Das ist das Drama der Offenbarung.

Frühe Kritik

Mein Thema heute Abend ist das umstrittenste aller Themen in der heutigen jüdischen Geschichte, der Glaube, dass „tora min ha-schamajim“ – dass die Tora, die in diesem Kontext natürlich die fünf Bücher Mose meint – das unvermittelte Wort Gottes ist.
Das wurde heftig bestritten, besonders im 20. Jahrhundert. Wir wissen aber, dass es nicht nur eine moderne Kontroverse ist. Schon zur Zeit der Mischna – wir sprechen über das 2. Jahrhundert, gut möglich auch noch früher – lesen wir in der Mischna (Sanhedrin, Kap. 12), dass unter denen, die keinen Anteil an der kommenden Welt haben, jene sind, die die Lehre von der Tora vom Himmel leugnen. Das verlegt die Kontroverse um fast 2 000 Jahre zurück.
Wir wissen ebenso, zumindest implizit, dass eine ganz ähnliche Herausforderung bereits in der Bibel vorkommt. Wissen Sie wo? Wo wird die „tora min ha-schamajim“ bezweifelt?
Im Korach-Aufstand (4. Mose 16,1-35) – allerdings aufgrund einer logischen Schlussfolgerung. Mose bittet um ein Zeichen vom Himmel, „dass alles, was ich euch im Namen Gottes gesagt habe, nicht aus meinem eigenen Herzen stammt“.
Mit anderen Worten: Bereits der Korach-Aufstand trägt Züge eines Angriffs auf Mose als Propheten, der die Worte Gottes wiedergibt.

In der Moderne, beginnend mit Baruch Spinoza, spitzte sich das Drama zu und spaltete am Ende das Judentum vielfach. Das ist der Zustand heute.
Lassen Sie mich vorweg sagen: Ich glaube – und hier bitte ich Sie nicht, diesem Glauben zu folgen, sondern hier rede ich ganz persönlich – ich glaube, dass die Tora vom Himmel ist.
Das Konzept der Tora als Offenbarung ist nicht einfach irgendein Glaubensgegenstand im Judentum. Es ist der Glaube des Judentums, aus dem alles andere folgt.

Ich glaube sogar, dass es noch mehr ist als das. Ohne die Tora vom Himmel hört das Judentum auf zu sein, was es ist, nämlich ein Glauben, ein Bund zwischen Gott und seinem Volk, und wird nichts anderes als bloße Volkszugehörigkeit oder Kultur – was eine großartige Sache ist, aber nicht das, was uns als Volk einzigartig macht.

Dieser Glaube schuf die Juden als Nation vor all den anderen üblichen Merkmalen einer Nation: bevor sie ein Land hatten; bevor sie ihre Souveränität hatten – all das, woran wir bei einer Nation denken. Vor all diesem wurde das Judentum zu einer Nation durch den Glauben, durch den Bundesschluss am Sinai.
Deshalb ist die Definition durch den Bundesschluss – ich bin bereit, mich widerlegen zu lassen – die einzige Definition, die durch die Zeiten Bestand hatte.
So betrachten wir heute Abend ein außergewöhnliches Drama.

Zur Geschichte der Bibelkritik

Ich will sehr kurz die Geschichte der Bibelkritik skizzieren. Ebenso werde ich kurz sagen, warum sie entstanden ist und warum sie mich nicht aus der Ruhe bringt.
Dann will ich mich der positiven Seite zuwenden: meiner Analyse von dem, was Offenbarung bedeutet, was die Tora vom Himmel bedeutet, und was das andere Prinzip im Judentum, nämlich, dass die Tora nicht im Himmel ist, bedeutet. Es ist ebenso wichtig.

Baruch Spinoza

Wir sind in der Mitte des 17. Jahrhunderts bei einem Nachkommen von Marranen mit Namen Baruch, alias Benedict Spinoza, der ein Buch geschrieben hat, das zu seinem Ausschluss aus der Großen Synagoge in Amsterdam führte: „Tractatus Theologico-Politicus“. Ein Bestseller!
Dieses Buch empörte Juden wie Christen gleichermaßen: Sie hielten Spinoza für einen Atheisten. Novalis allerdings nannte ihn einen „Gotttrunkenen“.
Spinoza wird mit diesem Buch zum ersten Bibelkritiker. Er führt aus, dass die Tora nicht Wort Gottes ist, sondern Menschenwort. Von welchem Menschen verfasst? Möglicherweise von Mose; Spinoza ist bereit, ihn als Hauptautor anzunehmen. Jedoch folgert er – indem er ein sehr dunkles Wortspiel eines Kommentators des 11. Jahrhunderts, Ibn Esra, in dieser Weise deutet –, dass einige wenige Passagen der Mosebücher nach Moses Tod der Tora angefügt wurden.
So weit Spinoza.

Quellentheorie

Sie wissen, dass jener mit Spinoza beginnende Prozess während der folgenden zwei Jahrhunderte bis zu dem Punkt vorangeschritten ist, an dem Wissenschaftler es nahelegten, dass die Tora, die Mosebücher, nicht das Werk eines einzigen Verfassers wären, sondern das Werk verschiedener Autoren, die zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Kontexten arbeiteten.
Das wurde als Quellentheorie bekannt und gipfelte in der These von Julius Wellhausen, dass es vier Verfasser (Quellen) aus unterschiedlichen Milieus gäbe.
Einer wurde „J“ genannt, einer „E“; „J“ gebraucht das Tetragramm, HaSchem, als Name Gottes; „E“ ist derjenige, der Elohim, Gott, benutzt.
Dann gab es einen Verfasser „P“, einen Priester. Und einen Verfasser „D“ , der das Buch Deuteronomium verfasste, und schließlich einen Redaktor „R“, der alles zusammenfügte. Das ist der Höhepunkt der Quellentheorie. Das war der zweite Schritt.

Sind Religion und Bibelkritik miteinander vereinbar?

Im dritten Stadium übernahmen wichtige Strömungen im Christentum die historische Kritik der Tora in ihren Grundzügen, so dass – viele Jahre später – auch Juden zu dem Schluss kamen: Wenn das Christentum überleben kann, obwohl es die Bibelkritik akzeptiert, und das Christentum eine Religion ist – und auch das Judentum eine Religion ist –, dann kann auch das Judentum überleben, wenn es die Bibelkritik akzeptiert.
Das war eine enorme Wende im jüdischen Leben.

Diejenigen von Ihnen, die mit der Geschichte der Konservativen Strömung im Judentum vertraut sind, werden wissen, dass ihr großer Architekt Solomon Schechter war, der Mann, der die Schriften aus der Genisa von Kairo nach Cambridge brachte. Er war der große Kanzler des Jewish Theological Seminary, der Heimat der Konservativen Bewegung in den Vereinigten Staaten, und ein unmissverständlicher Gegner der Bibelkritik. Er nannte die weiterentwickelte Bibelkritik „weiterentwickelten Antisemitismus“.
Es war also eine wirkliche Kehrtwendung, als Gruppen im Judentum die Bibelkritik übernahmen.

Das Vorverständnis bestimmt die Wahrnehmung

Das war in Kürze mehr als dreihundert Jahre Bibelkritik.
Jetzt möchte ich zweierlei dazu bemerken. Das erste werde ich kurz machen und will es in Form eines Witzes erzählen. Es auf diese Weise zu sagen, ist viel leichter als philosophisch.
Goldberg leidet an einer Krankheit, welcher auch immer, geht zum Psychiater, der ihn, um seinen Zustand zu diagnostizieren, dem so genannten Rorschach-Test unterzieht, bei dem man einen Tintenfleck betrachten und sagen soll, an was er einen erinnert.
Goldberg schaut auf diesen Tintenfleck und sagt: „Sex!“ Der Psychiater zeigt einen anderen Fleck. „Sex!“ Er zeigt einen dritten Tintenfleck. „Sex!“
Der Psychiater sagt: „Goldberg, Sie haben ein Problem. Sie sind von Sex besessen!“ Und Goldberg erwidert: „Nein, bin ich nicht. Was kann ich dafür, wenn Sie mir ständig diese unanständigen Bilder zeigen?!“

Mit anderen Worten: Es gibt die in der Aufklärung vorherrschende Meinung – Sie finden sie bei John Locke, Sie werden sie überall finden –, dass wir zuerst etwas sehen, und uns dann eine Meinung dazu bilden. In Wahrheit ist es jedoch genau umgekehrt. Zuerst haben wir eine Meinung, und dann sehen wir etwas. Unser Vermögen, Dinge zu betrachten, ist abhängig von unserem Begriffsrahmen, den wir an die Dinge herantragen, und wir sehen nur etwas, wenn wir bestimmte geistige Werkzeuge haben, anders sehen wir überhaupt nichts.
In noch anderen Worten: Unsere Wahrnehmung ist von unseren Erfahrungen abhängig.
Und genau das passierte im Fall der Tora und führte zu den Entwicklungen, die ich Ihnen vorgestellt habe.

Zuallererst Spinoza!
Hat Spinoza die Tora gelesen und dann gefolgert, dass dieses Werk nicht von Gott geschrieben wurde? Die Antwort ist „Nein“!
Spinoza formulierte ein sehr bekanntes Prinzip, genannt „Deus sive natura“ – „Gott oder die Natur“, dass Gott das Universum war, unter einem speziellen Aspekt gesehen.
Anders: Spinoza steht in Übereinstimmung mit den meisten Personen der Aufklärung, die glaubten, was man generell Deismus nannte, dass Gott die erste Ursache war, die das Universum in Bewegung setzte und sich dann zurückzog – wie es ein Graffiti in der Universitätsbibliothek Cambridge ausdrückt: „Gott existiert: Es ist nur so, dass er in nichts verwickelt werden möchte.“ Das ist die deistische Sicht auf Gott.

Immer wenn ein Philosoph Gott betrachtet wie Spinoza, dann wird er Gott als ein Prinzip sehen, als die erste Ursache des Universums. Mit anderen Worten als ein „Es“.
Aber es gibt eine Sache, die ein „Es“ nicht kann, nämlich reden. Das ist die Hauptdifferenz zwischen dem Gott Abrahams und dem Gott des Aristoteles, zwischen dem Gott des Judentums und dem Gott der Deisten oder Pantheisten, das ist: Gott könne nicht reden. Denn Gott sei keine Person. Gott sei eine Kraft, eine Totalität oder was auch immer.
Gott sei keine Person und könne deshalb per definitionem nicht reden.
Deshalb wusste Spinoza, noch bevor er überhaupt den Tenach [d.i. die Hebräische Bibel] öffnete, dass die Tora nicht Wort Gottes sein konnte, denn für ihn war die Wendung „Gott redet“ ein Widerspruch in sich selbst.
Deshalb musste man folgern: Wer immer die Tora schrieb – es war nicht Gott. Also war es ein menschliches Wesen.
Welches menschliche Wesen? Das ist der Punkt der Schlussfolgerung, an der Spinoza angekommen war. Doch in Wahrheit war es die Voraussetzung, von der er ausgegangen war.
Es gab für Spinoza in seinem Verständnisrahmen keine Möglichkeit, einen Gott zu verstehen, der redet.
Allgemeiner: Es gibt keine Möglichkeit, nach der die Philosophie einen Gott, der redet, verstehen kann. Das ist das erste.

Nun gehen wir in der Zeit etwas voran. Wenn für das 17. und 18. Jahrhundert das Schlüsselwort „Vernunft“ war, dann im 19. Jahrhundert „Geschichte“.
Allerdings „Geschichte“ in einem bestimmten Verständnis, verbunden mit dem zweiten Schlüsselwort des 19. Jahrhunderts: „Fortschritt“.
Die Menschheit – oder die Geschichte – wird als ununterbrochener, aufwärts führender Weg vom Primitiven zum Fortgeschrittenen verstanden, vom Einfachen zum Komplexen.
Sie finden das in der Philosophie bei Hegel, in der Biologie bei Darwin. Sie finden es in der Anthropologie bei James Frazer und in der Schule, die alle gegenwärtigen Gesellschaften als unendlich fortgeschrittener ansah als die primitiven Gesellschaften.
Das organisierende Prinzip des 19. Jahrhunderts ist „Geschichte“.

Was wollte Wellhausen, als er den Tenach las, sehen? Geschichte. Nun wissen Sie und ich, dass es in der Tora verschiedene Stimmen gibt; die Tora ist aus unterschiedlichen Textsorten zusammengestellt: Gesetz, Erzählung, X spricht, Y spricht, Gott, Mensch usw.
Wenn Sie diese – je nach Ihren Maßstäben – in der Reihenfolge „primitive und entwickelte Textsorten“ ordnen, dann entflechten Sie sie und sagen: Das primitivere Stück entstand sehr früh, das stärker entwickelte Stück sehr viel später.
So erstellen Sie eine Chronologie. Sie zerreißen das Ganze in kleine Stücke und datieren sie, was Sie als primitiver einschätzen als „früh“, was Sie als entwickelter einschätzen als „spät“. Das ist genau das, was Julius Wellhausen tat.

Bevor Wellhausen den Tenach aufschlug, war er an Geschichte interessiert. Als er den Tenach aufschlug, fand er die Bestätigung für das, als was er im Tenach einzig sehen konnte: ein historisches Dokument, das im Verlauf der Geschichte entstand und das er nun in verschiedene Schichten entflechten konnte.

Ein Text – zwei Bücher

Spinoza und Wellhausen sahen im Text genau das, was sie zu sehen erwarteten.
Und nun kommen wir zum dritten Stadium, welches das Christentum ist.

Hier möchte ich zwei grundlegende Punkte nennen. Wenn jemand von Ihnen Jorge Luis Borges gelesen hat, wird er sich vielleicht an die Kurzgeschichte „Pierre Menard. Der Verfasser des Quijote“ erinnern.
Es ist die Geschichte von einem irren Kerl, Pierre Menard, der sich daran machte, den Don Quijote mit genau denselben Worten zu schreiben, in denen auch Cervantes den Don Quijote geschrieben hat…
Borges präsentiert die metaphysische Fiktion, man habe zwei Bücher mit genau denselben Worten, aber es seien verschiedene Bücher.

Gibt es dafür ein Beispiel, nicht als Fiktion, sondern real? Offensichtlich ja! Es gibt zwei Bücher, die offensichtlich völlig unterschiedlich sind, aber dieselben Worte haben.

Der Tenach und das Alte Testament.

Der Tanach und das Alte Testament sind zwei völlig unterschiedliche DokumenteDer „Tenach“ ist, was auch immer er für uns ist.
Das „Alte Testament“ – ein völlig anderes Dokument, in dem das Christentum die Typologie eines gleichsam halb-göttlichen, halb-menschlichen Wesens sieht, das der Messias ist, der die Menschheit von der Erbsünde befreit.
Diese Lesart kommt keinesfalls aus der jüdischen Lesart des Tenach. Es gibt keine andere Lösung: Es sind verschiedene Bücher, die zufälligerweise die gleichen Worte haben. Das halten Sie bitte fest: Sie können zwei Bücher mit denselben Worten haben, aber es sind unterschiedliche Dinge.

Das ist eine Tatsache, die jüdische Denker nicht in Betracht gezogen haben. Und sie machten einen großen Fehler. Der Fehler war: Was die Idee der Offenbarung im Christentum bedeutet, ist nicht das Gleiche, was sie im Judentum bedeutet. Es gibt einen fundamentalen Unterschied.
Sie sehen ihn, wenn Sie die folgende Frage stellen: Wo hat sich Gott selbst offenbart? Und worin?
Im Christentum ist die Antwort: in einer Person. Im Judentum ist die Antwort: in Worten.
Das ist eine fundamentale Differenz. Es bedeutet zum Beispiel, dass die vier Evangelien für das Christentum keine Offenbarung sind – sie sind Zeugnisse von einer Offenbarung. Sie erzählen die Geschichte einer Offenbarung, die nicht auf einer Seite Text, sondern in einer Person, in einem Leben etc. existiert.
Das Christentum hatte keine Probleme damit, die Quellentheorie, dass es vier Autoren im Tenach gebe, zu akzeptieren, weil das Christentum genau dies in den vier Evangelien tatsächlich hatte. Statt „J“, „E“, „P“ und „D“ hießen sie Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Aber es gab niemals den Versuch, diese zu einem einzigen Dokument zu weben. Sie waren keine Offenbarung, sie waren Zeugnisse von der Offenbarung.

Wenn für das Christentum Gott in einem Menschen inkarniert ist, ist diese Vorstellung für das Judentum unvorstellbar. Denn wenn Gott in einem menschlichen Wesen inkarniert sein sollte, dann in jedem Menschen als „zelem elohim“, „Ebenbild Gottes“.
Und was ein individuelles Wesen als Gottes Sohn betrifft, glauben wir, dass jeder Jude Sohn oder Tochter Gottes ist. „Kostbar seid ihr, Israel“, sagt Rabbi Akiva, „weil ihr Gottes Kinder genannt werdet.“ Oder, wie Gott durch Mose dem Pharao mitteilt: „Mein Kind, mein Erstgeborener, Israel“.
Mit anderen Worten: Juden und Christen vertreten äußerst verschiedene Weltsichten. Ich kritisiere keine von beiden, noch will ich sie miteinander vergleichen, aber sie sind in der Wurzel unterschiedlich. Und was fundamental ist: Im Christentum kann man das Buch der Kritik unterziehen, weil die Worte nicht heilig sind! Die Worte weisen auf das, was heilig ist. Während im Judentum die Worte selbst die Mittel der Offenbarung sind. Sie sind das, was heilig ist.

Als das Christentum den Tenach sah, sah es deshalb nur das, was es sehen wollte, und das war das Zeugnis von dieser Person – bereits in der Prophetie des Jesaja, etc. etc.
Deswegen können wir dem Weg von Spinoza oder Wellhausen oder des Christentums – traditionell oder zeitgenössisch – nicht folgen, weil ihr Buch nicht unser Buch ist, sogar wenn es dieselben Worte hat.
Man liest es als Geschichtsbuch, wie Wellhausen oder Spinoza. Man liest es als Zeugnis für etwas hinter dem Text, wie das Christentum. Was immer sie tun, sie lesen nicht die Tora; sie lesen ein anderes Buch, das zu einer anderen Gattung gehört, einer anderen literarischen Kategorie.
Es ist ein anderes Buch.

Den Text lesen oder etwas hinter dem Text suchen?

Bedeutet das, dass nun Subjektivismus herrscht? Wie in „Alice im Wunderland“ jemand zu Alice sagt, dass „die Worte genau das bedeuten, was ich möchte, dass sie bedeuten“. Bin ich zu dieser Schlussfolgerung gezwungen? Wenn es eine Spinoza Lesart gibt, eine Wellhausen Lesart, eine christliche Lesart, und es gibt eine jüdische Lesart – sind sie alle bloß subjektiv? Man wählt, was man mag, und nimmt seinen Teil: was in der Literaturwissenschaft heutzutage „Dekonstruktivismus“ genannt wird. Und die Antwort ist „Nein“!

Ich halte diese Lesarten nicht für gleichwertig. Und der Grund ist, dass die Spinoza Lesart, die Wellhausen Lesart und aus jüdischer Sicht auch die christliche Lesart nicht den Text lesen.
Sie lesen durch den Text hindurch auf etwas hinter dem Text. Etwas, was im Fall von Spinoza und Wellhausen die Frage ist: Was passierte tatsächlich? Im Fall des Christentums die Person, die in ihrem Leben die Offenbarung war.
Sie lesen nicht den Text. Sie lesen durch den Text und jenseits des Textes. Sie nehmen den Text als Mittel, um etwas zu lernen von etwas, das interessanter ist als der Text.

Und glauben Sie mir: Das ist kein Weg, einen Text zu lesen. Darum ist die jüngere Bibelwissenschaft – für jene von Ihnen, die mit ihr vertraut sind – in andere Richtungen gegangen.
Wir haben drei neue Schulen der Bibelkritik, alle sind der jüdischen Leseweise viel näher, wenn auch nicht identisch mit ihr.

Neue Schulen der Bibelkritik

Eine nennt sich „Redaktionsgeschichte“, die auf den Text aus Sicht der Endredaktion schaut.
Die zweite nennt sich „Kanonische Lektüre“; das nicht wegen der seltsamen Gewänder, die ich tragen muss, damit die Leute wissen, wer ich bin. Kanonische Kritik, die von dem Professor für Bibel an der Yale Universität, Brevard Childs, entwickelt wurde, schaut auf den Text, wie er in der Glaubensgemeinschaft verstanden und aufgenommen worden ist.
Drittens der Strang, mit dem Sie vielleicht am besten vertraut sind, weil er sehr zugänglich und erhellend ist, das ist die Literarkritik von der Art, die Sie vielleicht aus den Werken von Robert Alter, Mayer Sternberg und anderen kennen.
Diese drei machen etwas, was frühere Schulen nicht taten: Sie lesen den Text. Lesen nicht durch ihn, neben ihm, hinter ihm, über ihm – lesen nur den Text.
Alle sind die vorherrschenden Formen der Bibelkritik – keine ist wie die jüdische Sicht, weil keine von ihnen den Text als Wort Gottes annimmt.
Aber wenigstens lesen sie den Text, und das ist es, was diese drei neuen Schulen der Bibelkritik viel angenehmer macht – ich lese sie und lerne eine Menge von ihnen. Wie Sie wissen, koste und lese ich epikursim [Ketzer]. Und ich genieße sie, aber ich bin nicht allzu sehr beeindruckt.

Das war meine negative Abgrenzung. Warum Spinoza? Wellhausen? Christliche Bibelkritik? Die Antwort ist kurz zusammengefasst: Jede von ihnen hat eine besondere Logik zu einer bestimmten Zeit – aber ich glaube, dass keine von ihnen eine Antwort auf den Text als Text war und noch weniger eine Antwort auf den Text als Wort Gottes.

Kultur des Sehens – Kultur des Hörens

Lassen Sie uns nun zur positiven Seite übergehen. Ich möchte mit einem außerordentlich starken und erhellenden Abschnitt des großen Historikers des 19. Jahrhunderts, Heinrich Grätz, beginnen.

„Der Heide nimmt das Göttliche in der Natur mittels des Auges wahr, und er wird seiner bewusst als etwas zu Betrachtendes.
Der Jude andererseits nimmt Gott wahr als etwas außerhalb der Natur und ihr vorangehend. Das Göttliche manifestiert sich selbst durch den Willen und mittels des Ohrs.
Der Heide sieht seinen Gott, der Jude hört ihn.“

Das ist, wie ich meine, eine sehr treffende Bemerkung, die uns nun auf den Pfad führen soll, der uns helfen soll herauszufinden, was das Judentum ist.

Mit anderen Worten: Sie haben zwei Kulturformen. Die Kultur des Blicks. Und die Kultur des Klanges. Sie haben eine Kultur, in der der wichtigste intellektuelle Akt das Sehen ist – das griechische theoria bedeutet „Sehen“. Theorie ist etwas, das Sie sehen. Genau so das lateinische idea. Die griechische Kultur ist eine am Sehen orientierte Kultur. Das Judentum ist das exemplarische Beispiel einer am Ohr orientierten Kultur, in der der primäre Akt nicht das Sehen, sondern das Hören ist.

Was bringt eine visuelle Kultur hervor? Statuen. Gemälde. Architektur. Skulpturen – und Zuschauer-Sportwettkämpfe. Das Ehrwürdigste von ihnen ist – ich spreche jetzt nicht vom Fußball: das Theater. Theater. Drama.
Mit anderen Worten: Das sind die visuellen Künste, und von ihnen hat die griechische Kultur in jeder Sparte einen Höhepunkt erreicht, der, wenn überhaupt, danach selten übertroffen wurde. Sie machen die Größe der griechischen Kultur aus.

Im Judentum – wo ist die Kunst? Wo die Architektur? Wo sind Dramen und Theater?
Sie gibt es nicht. Und das ist faszinierend, denn es zeigt uns, dass das Judentum eine Kultur nicht des Auges, sondern des Ohrs ist.
Und das nicht nur, wie Sie vielleicht denken mögen, weil das 3. Gebot das Herstellen von geschnitzten Bildern verbietet. Es reicht weiter. Es reicht bis in die Struktur biblischer Erzählungen.
Erlauben Sie eine Frage. Wie sah Abraham aus? Weiß es jemand? Groß? Klein? Dick? Rothaarig? Wie sah Mose aus? – Wir haben keine Ahnung.

Sie wissen, dass Homer voll ist von lebendigen Beschreibungen der Oberfläche von Dingen. Wenn Sie Homer lesen, dann sehen Sie.
Doch wenn Sie den Tenach lesen, sehen Sie nicht sehr viel. Der Text steckt voller Hintergründe. Alles Interessante ist ausgelassen, und man muss es aus der Vorstellung ergänzen. Der jüdische Text, der biblische Text steckt voller Hintergründe.

Oder lassen sie es mich anders sagen: Das Verbot geschnitzter Bilder wirkt sich sogar auf die Beschreibungen des Sichtbaren im Tenach aus. Sie bekommen nie die Beschreibung von jemandem, wenn es für die Erzählung nicht unbedingt notwendig ist.
Wann muss man wissen, dass jemand schön ist? – Wenn einem jemand drohen könnte, die Frau zu nehmen und ihn zu töten. Oder um zu erklären, wie es kommt, dass zwei sich auf den ersten Blick ineinander verliebten. So erkennen wir, dass Sara schön war, dass Rebekka sehr schön von Angesicht war; dass Rahel schön war. Aber „schön“? Was sagt uns das? Wir kennen nicht einmal die Farbe ihrer Haare.

Walter J. Ong, den Sie vielleicht nicht kennen, hat einige schöne Bücher geschrieben, eines heißt „Oralität und Literalität“; ein anderes – noch besser – „The Presence of the Word“; er führt aus, dass der Gesichtssinn von Oberflächen handelt, während der Gehörsinn, wörtlich und metaphorisch, vom Inneren.

Zum Beispiel: Was sehen wir, wenn wir jemanden anschauen? Offensichtlich ist das Wichtigste, auf das wir schauen, das Gesicht. Welche anderen Hinweise haben wir auf die Identität, die Gesellschaftsschicht, den Lebensstil?
Die Kleidung. Können Sie mir, mit der Ausnahme von Adam und Eva im Paradies, eine Liste von Gelegenheiten zusammentragen, bei denen in der Genesis Kleidung vorkommt oder eine Rolle spielt?
Esau – Jakob zieht sich wie Esau an;
Joseph – seine Brüder nehmen seinen Rock, spritzen Blut darauf und sagen, er sei von einem wilden Tier zerrissen worden.
Joseph in Ägypten – als Potifars Frau versucht, ihn zu verführen und wegläuft, und er hat ihr Gewand in seiner Hand – – nein, sie klammert sich an sein Gewand, und er läuft weg. Und sie sagt: Schaut, das ist der Beweis, dass er mich vergewaltigen wollte.

Das Sehen sagt nicht die Wahrheit

Andere Beispiele? Tamar kleidet sich wie eine Prostituierte. Nun, was ist all diesen Gelegenheiten gemeinsam?
Die Antwort: Kleider täuschen! a) Es war nicht Esau, sondern Jakob. b) Joseph ist nicht von einem wilden Tier getötet worden. c) Joseph hat nicht versucht, Potiphars Frau zu vergewaltigen. d) Tamar war keine Prostituierte. – Alle Kleidungsstücke dienten dazu, zu täuschen.
Zum Guten oder Bösen; darauf kommt es hier nicht an. Sie sollten täuschen. Der Anblick enthüllt die Wahrheit nicht. Er zeigt das Gegenteil von der Wahrheit.

Was ist der hebräische Begriff für „Kleidung“? „Beged“. Was der Begriff für „Betrug“?
„Oschamnu bagadnu“. Gucken Sie sich das an! Dasselbe Wort, das „Kleider“ bedeutet, bedeutet auch „Betrug“.
Im Judentum sagt nicht das, was man sieht, die Wahrheit, sondern das, was man hört – und das ist alles. Wenn man sich auf das Sehen verlässt, geht man in die Irre.

Was sollen wir anschauen, um es richtig zu erfassen? Die „Zizit“. „ure’item oto usechartem“ – „ihr sollt sie sehen und gedenken“.
Und wie fängt der Wochenabschnitt an, in dem die Zizit eine Rolle spielen? „Schelach lecha“ [„Sende aus“! 4. Mose 13,1 – 15, 41] – es ist der Abschnitt über die Kundschafter.
Da werden dieselben Worte gebraucht: „ure’item et ha’arez“ – „und ihr sollt ansehen das Land….“ Das ist das Leitwort. „Und ihr sollt sehen“ – das Wort kommt nur drei Mal in der Tora vor, zwei Mal in diesem Abschnitt.
Die Kundschafter sahen – und zogen daraus bestimmte Schlüsse. Es waren falsche Schlüsse. Was sahen sie? Wann immer Sie eine Verteidigung des Judentums brauchen, hier ist sie. Erinnern Sie sich, dass Mose unter den vielen Dingen, die er den Kundschaftern aufgetragen hat, sagte: „Seht, was es für Städte sind, in denen sie wohnen, ob sie in Zeltdörfern oder in festen Städten wohnen!“ Und sie kamen zurück und sagten, die Städte seien befestigt und sehr groß. Im 5. Buch Mose , Kapitel 1, fügen sie noch hinzu, sie seien bis an den Himmel ummauert. Also: Was machen die Kundschafter? Sie folgerten, wenn die Städte stark sind, dann ist auch die Bevölkerung stark. Das war ihre Schlussfolgerung.

Wissen Sie, was Raschi sagt? Wenn sie in offenen Städten wohnen, dann ist das ein Zeichen dafür, dass die Bevölkerung stark ist, weil sie sich nicht hinter Mauern verbarrikadieren müssen. Sie sind sich völlig sicher, dass sie bei einem Angriff gewinnen werden. Wenn sie hinter Mauern wohnen, dann ist das ein Zeichen dafür, dass sie schwach sind. Deshalb: die Kundschafter sahen – aber was sie sahen, gab es nicht. Sie sahen ein starkes Volk, aber tatsächlich war es ein überaus ängstliches Volk.
Und ich füge als meinen Kommentar zum jüdischen Leben hinzu: Denken Sie nicht, dass die, die hinter den hohen Mauern eines selbst gewählten Ghettos leben, unbedingt die stärksten Juden sein müssen. Die stärksten Juden können ohne diese hohen Mauern leben. Im Vertrauen auf ihren Glauben können sie sich im Dialog mit anderen Glaubensüberzeugungen oder mit den Kulturen anderer Völker engagieren.
Wie auch immer: Das Sehen sagt nicht die Wahrheit. Und was ist mit den anderen Sinnen? Schauen Sie! Ich will Ihnen einen Überblick über die anderen Sinne geben.

Wir ziehen das Sehvermögen vom Bild ab, weil die betreffende Person blind ist. Isaak, der im Begriff ist, seinen Sohn zu segnen; welche Sinne gebraucht er? Zuallererst den Geschmackssinn. „Bring mir etwas von dem Wildbret, das ich mit dir verbinde. Ich möchte schmecken, was mir an dir gefällt!“
Dann die Berührung: Er fühlt die Kleidung. Und dann den Geruch: „Siehe, der Geruch meines Sohnes ist wie der Geruch des Feldes, das der Herr gesegnet hat.“
Die drei Sinne neben dem Sehen. Sagen sie ihm die Wahrheit? Was sagt ihm die Wahrheit? „Die Stimme ist Jakobs Stimme.“ Aber er ignoriert das. Abgesehen von allem anderen – verstehen Sie, dass das ein kleines Drama ist, dazu, wie der Klang und nicht das Sehen Wahrheit im Judentum begründet.

Ich will nur eins noch ganz kurz erwähnen. Die Kulturen des Sehens und die Kulturen des Hörens bewirken unterschiedliche ethische Systeme.
Welches ethische System ist mit der Sehkultur verbunden? Es ist das, was die Anthropologen eine „Kultur der Scham“ nennen. Was ist mit einer Hörkultur verbunden? Eine „Kultur der Schuld“.
Scham ist das Erschrecken, das wir empfinden, wenn uns andere in einer Situation sehen, die unser unwürdig ist. Schuld ist die innere Stimme. Das Griechentum war selbstverständlich eine Kultur der Scham. Das Judentum ist eine Kultur der Schuld. –
Dafür haben wir unsere Mütter, nicht wahr?

Nun will ich Ihnen etwas zeigen, was ich bisher nirgendwo sonst gesehen habe. Adam und Eva im Garten Eden essen vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen. Und jeder fragt sich – und es ist in der Tat die Frage, die Maimonides gleich zu Beginn des 2. Kapitels im „Führer der Unschlüssigen“ stellt –: Was ist so schlimm daran, die Frucht vom Baum der Erkenntnis zu essen? Ist es nicht das Höchste, das wir anstreben sollten, den Unterschied zwischen Gut und Böse zu kennen? Wie kann das eine Sünde sein?
Ich möchte vorschlagen, dieser neuen Spur zu folgen. Was war das Ergebnis des Essens von dieser Frucht? Zuvor, was für eine Frucht war es? Sie war etwas, das man anschaut und der man nicht widerstehen kann. Sie war für die Augen verlockend. Was geschah, nachdem sie die Frucht gegessen hatten? „Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan und sie schämten sich, denn sie wurden gewahr, dass sie nackt waren.“
Jetzt erkennen Sie, was in der Geschichte von Adam und Eva tatsächlich vor sich ging. Sie erwarben die falsche Art des Wissens um Gut und Böse, das eher mit dem Sehen verbunden ist als mit dem Hören. Das verlockend aussieht, anstatt auf Gottes Stimme zu hören. Sie bewegen sich von der Kultur des Hörens, der jüdischen Kultur, zur Kultur des Sehens, der heidnischen und griechischen Kultur.

Offenbarung im Judentum

Damit kommen wir zu der besonderen Vorstellung von Offenbarung im Judentum, die mich – das gebe ich zu – noch immer mit Staunen und Ehrfurcht erfüllt. In der antiken Welt, der Welt der Mythen, der Welt des Heidentums, einschließlich der griechischen Welt, hatte man mit „Offenbarung“ kein Problem. Überhaupt kein Problem. Denn die Götter waren überaus sichtbar. Es dauerte keine fünf Minuten, bis man auf einen stieß. Wo ist Gott? Er ist die Sonne. Der Mond. Die Sterne. Der Himmel, der Wind, der Regen, der Sturm, die See. Die Götter sind alles andere als versteckt. Sie sind einfach da. Und die Trennungslinie zwischen den Göttern und der Natur auf der einen Seite und zwischen den Göttern und den Menschen auf der anderen Seite ist allenfalls verschwommen. Es gibt kein Offenbarungsproblem.

Das Problem der Offenbarung entsteht erst mit dem Entstehen des Judentums, des radikalen Monotheismus, wenn Gott plötzlich das Universum transzendiert und nicht länger in der Natur gesehen werden kann.
Jetzt gibt es eine Krise. Hier ist eine ihrer schönsten Formulierungen, Psalm 8: „Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk.“
Das ist reiner Monotheismus. Das ist die Sprache monotheistischer Metaphern, so radikal anders, dass das Erhabenste, was man sehen kann, nur „deiner Finger Werk“ ist. Und dann fragt der Psalmist: „Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“
Oder wenn Jesaja sagt: „Der Himmel ist mein Thron und die Erde mein Schemel.“
Das ist der entscheidende Augenblick: Gott ist nicht länger in der Natur, sondern völlig jenseits. Welche irdische Verbindung könnten wir mit diesem Wesen haben, das so unermesslich und vor allem unsichtbar ist?

Sprechen zeichnet eine Person aus

Die Antwort ist wirklich radikal. Es gab in den 1930ern und 1940ern einen großen Mathematiker, Alan Turing. Er war einer der ersten Theoretiker des Computers. Turing war an der Frage der künstlichen Intelligenz interessiert. Von wann an wird ein Computer eine intelligente Form des Lebens?
Das war ein großes Thema in den letzten zwanzig Jahren, er hat es als erster aufgeworfen. Er entwickelte den so genannten Turing-Test. Dieser besagt: Wenn man ein ordentliches Gespräch führen kann, dann hat man eine intelligente Form des Lebens vor sich. Wenn man vor die Maschine tritt und zu ihr redet – mit anderen Worten: Wenn man alles Mögliche eintippt und alles Mögliche zurückkommt und man nach fünf oder zehn Minuten nicht mehr sagen kann, ob das Gegenüber ein Mensch oder ein Computer ist, dann hat man künstliche Intelligenz vor sich. Dann ist der Computer plötzlich zu einer Person geworden.
Ich glaube nicht, dass wir schon so weit sind. Wir haben Autos, die zu uns sprechen, und Gott weiß, was eines Tages sonst noch. Doch ich denke, ich kann den Unterschied erklären. Turing hat uns etwas Grundlegendes gesagt. Was für unsere Vorstellung von einer Person wesentlich ist, ist das Gespräch, oder – wie ich es in diesem Vortrag genannt habe – der Dialog.
Der Dialog ist in seinem Wesen das Zusammentreffen zwischen einem Ich und einem anderen Ich, von einer Person und einer anderen Person. Wesentlich dabei ist die Kommunikation. Die gesprochenen Worte, die gehörten Worte, die Worte, auf die man antwortet.
Dieses Hin und Her begründet die Konversation – der einfache, aber grundlegende Test des Menschseins, den wir kennen. Deswegen – und das ist das jüdische Verständnis seit sehr, sehr langer Zeit – ist der entscheidende Moment, an dem zwei Ichs, zwei Personen miteinander in Berührung kommen und sich aufeinander beziehen, der Moment, wenn sie zueinander sprechen und aufeinander hören und einander antworten können.

Mit anderen Worten: Die größte Einsicht des Judentums ist – ich habe ja schon in anderen Vorträgen ausgeführt, dass das Radikalste im Judentum ist, dass Gott eine Person ist –, die Verbindung gezogen zu haben: Wenn Gott eine Person ist, dann ist das, was heilig ist, die Sprache.
So offenbart sich Gott selbst. Nicht als eine Kraft oder eine Macht oder ein großes „Es“ oder ein Gedankenentwurf. Sondern wenn sich Gott als Person selbst offenbart, dann, wenn er spricht. Durch Rede, Sprache, Worte – an diesem Punkt berühren sich Himmel und Erde.
Durch Worte. Und keine Religion, meine ich, ist faszinierender gewesen oder hat den Worten eine größere Bedeutung zugemessen, so dass sogar völlig säkulare Juden im letzten Jahrhundert unsere wichtigsten Sprachtheoretiker geworden sind. Leute wie Wittgenstein, Lévi-Strauss, Chomsky, George Steiner etc. etc.
Durch Worte hat Gott die Welt erschaffen. „Und Gott sprach: Es werde…“ – und es geschah.
Durch Worte schaffen menschliche Wesen Ordnung. Das erste, was Adam tat, war es, die Tiere zu benennen. Der Beginn der Klassifizierung, der Beginn der menschlichen Herrschaft über die Natur.
Durch Worte. Adam bezieht sich auf den ersten „Anderen“ in der Geschichte, den ersten bedeutenden „Anderen“. „Da sprach Adam: Das ist doch Bein von meinem Bein, Fleisch von meinem Fleisch.“

Und es sind Worte, durch die die Gesellschaft gebaut wird.
Sie erinnern sich an die unglaubliche Satire auf die Anmaßung menschlicher Zivilisation? Die Menschen im Zweistromland, auf einer Ebene in Sinear, erzielten einen großen technischen Durchbruch. Sie schufen Ziegelsteine, das erste künstliche Baumaterial. Und aufgrund dieser Technologie sagten sie sofort: „Wir können den Himmel erobern. Lasst uns einen Turm bauen.“
Und sie kennen den herrlichen Witz in der Tora. Sie bauen diesen Turm, der bis zum Himmel reicht. Aber Gott sagt: „Wir wollen hernieder fahren und uns das anschauen.“ Sie bauen diesen Turm bis an den Himmel und Gott nimmt seine Lupe und sagt: „Wir wollen das Ding betrachten!“
Gott zeigt ihnen, dass nicht die Technik, sondern die Sprache wirklich kreativ ist. Er nimmt ihnen die gemeinsame Sprache. Sie können nichts mehr tun. Das ist keduschat ha-laschon, die Heiligung der Sprache.

Nun können wir das Judentum in die logische Geographie der Weltreligionen einzeichnen. Im Grunde gibt es zwei religiöse Momente. Ost und West. Wie auch immer, ich will nicht verall-gemeinern. Entweder gibt es Leute, die denken, dass Gott objektiv ist, mit anderen Worten: dort draußen. Oder Gott ist subjektiv, mit anderen Worten: hier drinnen.
Das sind die beiden grundlegenden Dinge. Entweder finden wir Gott draußen im Universum, oder wir finden Gott drinnen in der Seele. Das Objektive steht gegen das Subjektive. Das Judentum sagt: weder – noch. Das Judentum sagt: beides ist zweitrangig.

Gott tritt durch sein Sprechen in einen Dialog mit den Menschen

Wo findet man Gott? Weder in der Arena des Objektiven noch des Subjektiven, sondern im Intersubjektiven. Und das ist das Reich der Sprache, in dem zwei Personen – beide mit einem inneren Leben – miteinander kommunizieren. Die Sprache ist der Ort der Intersubjektivität. Und ich kenne keine andere Religion, die sich in dieser Arena platziert.
Das entscheidende Merkmal des Judentums ist es also, dass Gott spricht und – durch das Sprechen – in einen Dialog mit der Menschheit eintritt. Das ist die erste Überzeugung der tora min ha-schamajim: Worte sind heilig.

Ich möchte nun eine einfache Frage stellen. Welchen Sinn hat der 3. Satz von Beethovens Streichquartett in a-Moll, Opus 132? Oder: Welchen Sinn hat ein Gemälde von Mondrian? Oder Napoleons Russlandfeldzug? Was bedeutet er?
Die Antwort ist, dass diese Fragen unbeantwortbar sind. Wir haben keine Ahnung, wie eine Antwort aussehen könnte. Wir wissen nicht einmal, wo wir nachschauen sollten.
Aber dann entdecken wir, dass Beethoven, als er über den Satz schrieb „Heilige Danksagung“ und an einer anderen Stelle „Neue Kraft fühlend“, „Danksagung eines Genesenden an die Gottheit“, von einer Krankheit genesen ist, und wir spüren: Ja, jetzt kann ich verstehen, was die Musik bedeutet!
Wenn Mondrian unter sein verwirrendes Gemälde schreibt: „Broadway Boogie-Woogie“, dann merken Sie plötzlich, worauf er hinaus will.
Sie möchten die Bedeutung von Napoleons Russlandfeldzug wissen? Dann lesen Sie „Krieg und Frieden“, und Sie erfahren zumindest, was Tolstoi dachte, was er bedeutet.

Die Natur

Ohne Worte gibt es so etwas wie Sinn nicht. Das ist der Grund, weil die Seele an sich oder das Universum an sich nicht die Orte sind, um Sinn zu finden. Nur wenn wir Worte haben, können wir irgendetwas einen Sinn beilegen.
Wir können den Sinn nicht aus der Schöpfung ablesen. Die Gemara sagt, wenn die Tora nicht gegeben worden wäre, würden wir Fleiß von den Ameisen lernen, Schamgefühl von der Katze. Wenn uns die Tora nicht gegeben wäre, könnten wir in Wahrheit genauso gut die List vom Fuchs, das Fressen vom Wolf, die Gewalt vom Tiger lernen. Das Universum trägt vordergründig keinerlei Bedeutung.

Die Geschichte

Auch die Geschichte hat vordergründig keine Bedeutung. Glauben Sie wirklich, dass die Ägypter den Exodus in der gleichen Weise verstehen wie wir? Mit anderen Worten: Ohne Worte trägt nichts eine Bedeutung. Darum sage ich, dass Offenbarung der Glaube des Judentums ist, nicht ein Glaube im Judentum. Wir glauben an die Schöpfung. Wir glauben an die Erlösung. Mit andern Worten: Wir glauben an Gott in der Natur und in der Geschichte. Aber wenn wir die Tora nicht hätten, könnten wir die Vorstellung von einer Schöpfung nicht einmal denken, denn die Natur an sich hat keine sichtbare Bedeutung. Wenn wir die Tora nicht als Geschichte hätten, würden wir die Erlösung nicht verstehen, denn die Geschichte an sich ist nicht eindeutig. Deshalb ist die Tora wesentlich für den Sinn, weil die Tora Heiligkeit in die Sprache bringt.

Das Judentum nimmt an, dass nicht ein Ort, eine Person oder eine Macht fundamental ist, sondern fundamental sind die Worte: Gottes Anrede an uns und unsere Antwort an Gott. Die Bedeutungen liegen in der Sprache. Wir finden sie nirgendwo sonst. Deswegen ist das Judentum das höchste Beispiel einer Religion der Sprache und deshalb der Bedeutung.
Wenn wir Gott nicht in der Tora finden, finden wir ihn nirgendwo sonst.

In der Tora spricht Gott zum Menschen und fragt: Wo bist du? Wir sprechen zu Gott und fragen Gott: Wo ist er? Und in diesem Dialog von Himmel und Erde lebt das Judentum.
Jetzt bin ich so weit, die Frage zu beantworten: Was ist die tora min ha-schamajim?
Es gibt drei Metaphern, die die Bibel gebraucht, um unsere Beziehung zu Gott zu beschreiben – jede von ihnen ist notwendig, weil jede von ihnen etwas festhält, was den anderen fehlt.
Die erste Metapher: Herr und Knecht, Herr und Diener. Zum Beispiel, wenn Gott sagt: „Die Kinder Israel sind meine Knechte.“ Gott ist also der Besitzer, die oberste Macht, und wir sind seine Untertanen.
Die zweite Metapher: Ehemann und Ehefrau. Das herrliche Bild bei Jesaja, Jeremia, vor allem bei Hosea. „Ich will mich dir verloben für immer.“
Und schließlich: Gott ist ein Elternteil und wir sind seine Kinder.
Das sind die drei Metaphern, und jede von ihnen hilft uns zu verstehen, was tora min ha-schamajim ist.

Die erste ist eine politische Metapher. Gott ist der Herr und wir sind seine Knechte. Die Tora ist für Juden genau das, was die amerikanische Unabhängigkeitserklärung und die Verfassung der Vereinigten Staaten sind. Die Tora ist als „adon“, „Herr“, und „eved“, „Knecht“, die geschriebene Verfassung des jüdischen Volkes unter der Souveränität Gottes. Sie ist ein Verfassungsdokument, ein politisches Dokument, die erste jemals geschriebene Verfassung eines Volkes.
Das ist die ganze Tora, die 5 Bücher Mose, jedes von ihnen passt genau zu dem Vertragsformular im antiken Nahen Osten. Die ganze Tora ist ein Verfassungsdokument, das uns zu Bürgern in der Republik des Glaubens macht.

Ehemann und Ehefrau. Die Heirat ist im Judentum das größte Beispiel für eine Beziehung, die uns an jemand anderen bindet, wobei wir die Würde und Selbstständigkeit dieser anderen Person respektieren. Es ist ein Bund, nicht durch Gewalt oder Manipulation, sondern durch Liebe.
Bei Ihrer Heirat gebrauchen Sie die Sprache in einer besonderen Weise. Wir sagen die folgenden Worte: „Ich verspreche“ – was tun wir dabei? Wir beschreiben nicht den Vorgang eines Versprechens, wir geben ein Versprechen. Der Oxforder Philosoph J. L. Austin hat das einen „performativen Satz“ genannt: „sprechen“ und zugleich damit etwas „bewirken“, im Besonderen eine moralische Verpflichtung bewirken.
Wenn ein Ehemann zu seiner Frau unter der Chuppa sagt: „Siehe, Du bist mir mit diesem Ring geheiligt, nach dem Glauben Moses und Israels“ – dann ist das ein Tun. Er spricht nicht über die Ehe, er schließt sie.
Der erste grundlegende Satz der tora min ha-schamajim ist, wenn Gott am Sinai sagt: „harei at mekudeschet li“ – „Siehe, du bist mir geheiligt.“ Und das soll euer Ehevertrag sein.

Die Tora ist der Ehevertrag zwischen Gott und dem jüdischen Volk. Die Tora ist nicht nur ein Buch. In ihrer Funktion ist sie einem Ehering vergleichbar. Mit anderen Worten: Solange wir sie haben, ist Gott an uns gebunden und wir an Gott. Das ist die zweite Metapher:
Ehemann und Ehefrau.

Die dritte ist die ergreifendste von allen Metaphern: Gott als Vater, als Elternteil.
Was widerfährt den Eltern? Sie müssen lernen, dass früher oder später die Kinder das Haus verlassen. Zuallererst müssen sie ihnen Raum geben. Aber dann geben sie eine Ermahnung: Sogar wenn du und ich einen langen Weg getrennt gehen werden, wünsche ich mir, dass du an mich denkst – ein Brief, oder was auch immer.
Das ist die dritte Definition der tora min ha-schamajim. Es ist Gottes Brief an uns. Seine Weise zu sagen: Unsere Wege mögen auseinandergehen, es mögen Zeiten kommen, in denen ich sehr weit weg bin – lies diesen Brief, den ich dir geschrieben habe, und dann werde ich bei dir sein.
Das ist das poetischste Konzept der tora min ha-schamajim – Gottes Brief als Brief der Eltern an ihr Kind.
So haben Juden 2 000 Jahre im Exil überlebt, ohne sich je von Gott verlassen zu fühlen, denn solange die Tora bei ihnen war, war auch Gott bei ihnen. Das war sein Brief. Das war die kol gadol velo jasaf – die große Stimme vom Sinai, die nie verstummt.
Und das war das Drama der kol demama daka. Jener Stimme, die wir hören konnten, wenn wir aufmerksam genug zuhörten. Wo auch immer sie waren in Osteuropa, Spanien, im Jemen – wenn sie die Tora lasen, hörten sie Gottes Stimme, und sie wussten: Sie waren beieinander.

Das sind die drei Bedeutungen der Tora im Judentum. Sie ist überhaupt kein gewöhnlicher Text. Die Tora ist nicht wie ein Buch, das Sie in der Bibliothek finden können. Sie ist (1) wie eine Fotografie oder wie ein Brief von einem Vater an sein Kind; (2) wie der Hochzeitsring von Mann und Frau; (3) wie die Verfassung, die Israel als Nation unter der Herrschaft Gottes schafft.
Allen diesen Metaphern ist gemeinsam, dass sie eine Beziehung zwischen Gott und seinem geliebten, wenn auch manchmal widerspenstigen und in die Irre gehenden Volk begründet. Das bedeutet tora min ha-schamajim. Es sind die Worte, durch die sich Gott selbst an sein Volk bindet und das Volk an Gott.
Was ist Tora? Tora ist die Welt, in die wir eintreten, wenn wir durch aufmerksames Zuhören die Stimme Gottes hören.
Mit anderen Worten, um es genauer zu sagen: Es sollte nicht „Tora vom Himmel“ heißen, sondern im Grunde „Himmel aus der Tora“. Das ist tora min ha-schamajim: heilige Worte, mit denen Gott sich selbst an uns bindet.

Die Tora ist nicht im Himmel

Aber ich muss Ihnen noch schnell sagen, dass es in diesem Drama noch einen Akt gibt, und wenn ich Ihnen das nicht erzähle, wird alles schief. Sie wissen, dass es im Judentum im Lauf der Zeiten allgemein eine Bewegung gibt: von Gott, der sehr aktiv ist, und die Israeliten, die sehr passiv sind, zu Israeliten, die aktiv werden, und Gott, der weiter weg rückt. Das erkennt man, unter welcher Perspektive man es auch betrachtet. Aber wenn Sie auf die verschiedenen Bundesschlüsse achten, werden Sie es schnell erkennen.
Was waren die ersten Bundesschlüsse, die Gott mit Noah, mit Abraham und mit Jakob schloss? In allen drei Fällen ist es allein Gott, der redet, und Noah, Abraham und Jakob haben nicht viel zu tun.
Schauen Sie auf die späteren Bundesschlüsse, den einen durch Josua (Josua 24). Oder durch Jesaja. Oder durch Esra, als das Volk aus Babylon zurückkehrte. Wer ergriff die Initiative? Die Menschen. Gott spielt in ihnen allen keine Rolle. Es gibt also eine Bewegung von Gottes Aktivität hin zu menschlicher Aktivität – und in der Mitte steht der Sinai, wo Gott spricht und die Menschen antworten, und der Bund nur in der Wechselseitigkeit geschlossen werden kann.
Wir bewegen uns also von einer Welt, in der Gott spricht, zu einer Welt, in der ein Dialog herrscht, zu einer Welt, in der die Menschen sprechen und Gott zuhört, aber nicht selber spricht. Dies ließ das ungewöhnlichste Drama überhaupt entstehen.
Wir wissen, dass im Verlauf der Zeiten, es mag tausend Jahre gedauert haben, der Tenach kanonisiert wurde. Zuerst die Bücher des Mose. Dann die Propheten. Dann die anderen Schriften. Und das brauchte Jahrhundert um Jahrhundert, bis es abgeschlossen war.
Aber als der Kanon abgeschlossen war und wir ein Buch hatten, den Tenach, dem nichts weiter hinzugefügt werden sollte, bewegte sich das Judentum in eine neue Richtung.
Von wo aus bewegte es sich? Es bewegte sich von der Offenbarung zur Interpretation durch die Rabbinen. Das Judentum wandelt sich von Offenbarung zur Interpretation. Von der göttlichen Rede zum menschlichen Deuten dieser Rede. Vom passiven Aufnehmen zum aktiven Interpretieren.
Das ist der Wandel von der Welt der Propheten zur Welt der Weisen.

An diesem Punkt, als Gott sich zurückgezogen und dem Menschen Raum zum Wachsen eingeräumt hat, hat die Rolle des Menschen in der Offenbarung ihre größte Würde erhalten. Und wie? Ich muss Ihnen die Geschichte erzählen, obwohl Sie sie alle auswendig können.

Der Schlangenofen

In den früheren Zeiten kochten die Menschen außerhalb des Hauses – wenn man in Israel lebte. Für England empfehle ich das nicht. Sie wissen vielleicht, dass Sie einen Tontopf nicht kaschern [sc. koscher machen] können. Was macht man mit ihm? Sie müssen ihn zerschlagen. Stellen Sie sich nun die folgende Situation vor. Sie leben in Israel, Sie haben einen schönen Herd draußen im Hof, und wenn ein totes Insekt hineinfällt, ist er „tame“, „unrein“, und Sie müssen ihn zerschlagen. Sogar wenn jemand gerade eine Mahlzeit zubereitet, müssen Sie den Herd zerschlagen und einen anderen beschaffen. Das ist doch verrückt!
Also hat jemand einen arbeitssparenden Ausweg gefunden namens „pre-smashed oven“, einen bereits zerschlagenen Herd. Eine geniale Sache! Er kommt in Einzelteilen, Sie streuen Sand zwischen die Teile. Und das ist es. Wenn er unrein geworden ist, nehmen Sie ihn auseinander und setzen ihn dann wieder zusammen.
Rabbi Elieser sagt: „Großartig!“ Die anderen Rabbinen sagen: „Nein! Viel zu einfach. Vergiss es!“
Da sagte Rabbi Elieser: „Selbst dieser Johannisbrotbaum hier kann beweisen, dass die Entscheidung so ausfallen muss, wie ich es behaupte!“ Der Johannisbrotbaum entwurzelte sich und rückte hundert Ellen weit fort.
Doch die anderen Rabbinen sagten: „Von einem Johannisbrotbaum lässt sich kein Beweis erbringen.“
Nun sprach Rabbi Elieser: „Wenn die Entscheidung so sein muss, wie ich es behaupte, dann soll es der Wasserkanal beweisen.“ Da fing das Wasser im Kanal an, rückwärts zu fließen.
Doch die anderen Rabbinen sagen: „Ein Wasserkanal kann nicht als Beweis dienen.“
Wiederum sprach Rabbi Elieser: „Es sollen die Wände des Lehrhauses beweisen, das ich Recht habe.“ Da fingen die Wände des Lehrhauses an zu stürzen.
Aber Rabbi Akiva schimpfte sie aus: „Was geht euch Wände es denn an, wenn die Weisen sich über einen Punkt des Gesetzes streiten.“
Die Wände nun sind nicht völlig gestürzt – aus Respekt vor Rabbi Akiva. Aber aus Respekt vor Rabbi Elieser haben sie sich auch nicht wieder völlig aufgerichtet. Sie blieben wankend stehen.
Rabbi Elieser schrie jetzt auf: „Wenn die Entscheidung so ausfallen muss, wie ich es behaupte, dann soll Gott selbst es beweisen.“
Tatsächlich ließ sich eine himmlische Stimme vernehmen, die sprach: „Was wollt ihr denn von Rabbi Elieser! Die Entscheidung ist doch in allen Fällen so, wie er es behauptet!“
Da sprang Rabbi Josua auf und rief: „Du hast uns die Tora gegeben und in deiner Tora gesagt: Sie ist nicht mehr im Himmel“ [5. Mose 30,12] – „Die Tora wird nicht im Himmel gemacht. Sie wird hier auf der Erde gemacht. Du bist überstimmt. Du und Elieser gegen ein halbes Dutzend Rabbinen: das halbe Dutzend gewinnt. Der Allmächtige ist überstimmt!“
An diesem Tag traf Rabbi Nathan den Propheten Elia. Er fragte ihn: „Was hat Gott eigentlich in jener Stunde getan?“
Da antwortete der Prophet: „Gott hat gelächelt und gesagt: ‚Meine Kinder haben mich besiegt’!“ [nach BT Baba Mezia, 59 b]

Das ist der Punkt, an dem die geschriebene Tora zur mündlichen Tora wird, an dem die Offenbarung zur Interpretation wird, wo die Menschen eine Größe und Würde erreichen, wie sie es nie in einer anderen Religion der Menschheit hatten.
Und das ist der zweite Schlüsselmoment in diesem Drama: Ich habe Ihnen dargelegt, wie das Judentum dem Anderen Raum gibt und wie Gott uns Raum gibt. Als die Prophetie endete, und er uns die Macht zur Interpretation gab – oder im Modell von Herr und Knecht, als Juden so etwas wurden wie das amerikanische höchste Gericht. Sie sind nicht die Gesetzgeber, sie sind die Richter, und die Rabbinen können die geschriebene Verfassung interpretieren, wie sie es für angemessen halten, genau wie der Oberste Gerichtshof.

Das ist es. Das ist das Drama der Tora vom Himmel in ihren zwei Bewegungen. Dass das Judentum vor allem anderen in der geschaffenen Welt sagt: Heiligkeit kommt der Sprache zu. Dass die wichtigste religiöse Erfahrung der Dialog zwischen Himmel und Erde ist, den wir heutzutage talmud tora nennen: das Lernen der Tora.
Denn wenn wir lernen, treten wir in diese Beziehung mit dem Allmächtigen ein. Wir hören seine Stimme, nehmen sie in uns auf, und wir interpretieren sie.
Sie nehmen vielleicht an, dass eine Religion mit 613 Geboten über ein Wort verfügt, das „gehorchen“ bedeutet. Das ganze Hebräische hat kein solches Wort. Was gebraucht die Bibel stattdessen? Lischmoa. Sch’ma Jisrael. Das bedeutet nicht „gehorchen“, es bedeutet: „hören, „zuhören“, verinnerlichen, verstehen, antworten.
Darum ist das Schlüsselgebot des Judentums „zuhören“, weil das, was heilig ist, der Ton ist. Wir gehören zu einer Kultur des Hörens, nicht des Sehens.

 

God’s Sabbath International wünscht all seinen Lesern Chag Schawuot Sameach | hier gehts zum Schabbat-Kommentar Bamidbar und den Lesungstexten für Schawuot »

Eric Martienssen

Seit meinem Kirchenaustritt 2009 spüren meine jüdisch-orthodoxen Freunde in Israel und ich in Artikeln und höchst politischen Schabbat-Kommentaren auf GSI (God's Sabbath Int.) den Fake News Roms nach.

Der damalige Pontifex zerstörte die Wohnung Gottes, den Tempel in Jerusalem - Fakt! War das Neue Testament und die Kirche nur eine Weltmacht strategische Geschäftsidee Roms? Was ist Politik heute? Viel Freude bei Ihrer Reise auf GSI.