Rede der Vorsitzenden der Synagogengemeinde Bonn, Dr. Margaret Traub,
Jahrestag der so genannten Reichspogromnacht 2010 (Synagogen Denkmal)
- Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Nimptsch,
verehrte Anwesende,
wir stehen auch heute wieder hier, vor den Überresten dessen, was vor 72 Jahren einmal eine Synagoge war. Es hat inzwischen eine lange Tradition, dass wir uns hier am 10. November eines Jahres treffen, um den Toten der Nazigewaltherrschaft zu gedenken. Wir gedenken heute auch wieder der so genannten Reichskristallnacht, die als eine der schrecklichsten Nächte für die deutschen Juden, aber auch für die ganze jüdische Welt anzusehen ist.
Seit dem Ende des 2. Weltkrieges ist im Sinne der Völkerverständigung viel Positives geschehen: Ich meine hier den Wiederaufbau von Freundschaften zwischen Juden und Nichtjuden. Die Bundesrepublik hat jetzt auch eine Verfassung, die garantiert, dass von deutschem Boden keine Kriege mehr ausgehen werden und eine Regierung, die es nicht zulassen wird, dass die schrecklichen Ereignisse des dunkelsten Kapitels der deutschen Geschichte sich wiederholen. Wir sind an diesem Ort hier als Juden in Deutschland in erster Linie umgeben von Menschen, die bereits in der 2. Generation freundschaftlich mit uns verbunden sind. Wie auch anderswo, trifft man gerade bei Gedenkveranstaltungen wie diesen, Menschen, die wissen, dass Neid und Missgunst gegenüber Andersgläubigen oder Menschen anderer Herkunft die Welt zu jeder Zeit wieder ins Verderben stürzen können.
Nach Ablauf von 72 Jahren sollte man eigentlich meinen, dass die Zeit die Wunden heilte, aber dies trifft in diesem Fall nicht zu, zumal die Wunden täglich neu aufgerissen werden. Fast jeder von uns Juden hat im Holocaust Familie, Verwandte, Freunde oder Bekannte verloren, dabei begann es eigentlich doch ganz harmlos. Unter dem Motto: „Kauft nicht bei Juden!“ wurde bereits 1933 der so genannte „Volksboykott“ durchgeführt. Es ging dabei aber um nichts anderes, als den Raub jüdischen Eigentums privater oder geschäftlicher Art von langer Hand staatlich gelenkt vorzubereiten.
Gut fünf Jahre später, am 10. November 1938, also am Tag nach der so genannten Reichspogromnacht, berichteten die Abendausgaben der großen Zeitungen: „Die Einwohner zogen in großen Scharen durch die Straßen und es ist nur der außerordentlichen Disziplin der Bevölkerung zu verdanken, wenn die Rassegenossen des feigen Mörders Herschel Grünspan (→DER TAGESSPIEGEL) vor Schaden an Leib und Leben bewahrt blieben.“ Hier wurde besonders zynisch wiedergegeben, dass der Mob staatlich gelenkt gegen Recht und Gesetz verstoßen hatte und alle Anderen sehr geflissentlich weggeschaut hatten.
Wir können und dürfen nicht vergessen; nicht nur weil die getöteten Menschen uns so nahe waren, sondern auch, weil wir die Erinnerung an diese Menschen in ehrendem Gedenken halten müssen.
Schon deswegen muss an diesen Gedenktagen über die Reichspogromnacht und über den Holocaust gesprochen und an ihn erinnert werden. Bei uns Juden bildet das Gedenken an unsere Toten dabei den Schwerpunkt, wohingegen die Erinnerung für die nichtjüdische Bevölkerung mit dem Ziel verbunden sein muss, dass Geschehnisse wie im Dritten Reich sich in deutschem Namen nie wieder wiederholen können.
Nur knapp 50 Jahre später – in den neunziger Jahren – berichteten die Fernsehstationen und die Nachrichtenagenturen weltweit: In der Bundesrepublik Deutschland gibt es Brandanschläge gegen Asylbewerberheime, Ausschreitungen gegen Menschen, die in Not zu uns gekommen sind, und das unter dem Applaus der Bevölkerung, zum Beispiel damals in Rostock. Es gab einen Aufschrei aller demokratischen Kräfte in Deutschland und es wurde der Versuch unternommen, der Zunahme der Anzahl der Neo-Nazis entgegenzuwirken. Dennoch stiegen die bedrückenden Meldungen über Schändungen von jüdischen Friedhöfen.
Deutschland im Herbst 2010: Vor wenigen Tagen hat es einen Brandanschlag auf die neue Synagoge in Mainz gegeben. Der Verfassungsschutz beobachtet immer mehr rechtsextreme Organisationen. Menschen werden auf offener Straße angepöbelt oder sogar tätlich angegriffen, wenn sie als Juden erkennbar sind. Kein Zweifel, ein solches Verhalten wird von der Mehrheit der politisch bewusst denkenden, deutschen Bevölkerung verurteilt und die Ermittlungsbehörden versuchen jeweils mit großem Eifer, die Täter zu fassen und der Justiz zu übergeben. Aber, meine Damen und Herren, wir erleben als Juden in Deutschland heute auch insbesondere einen
Antisemitismus, der nicht in Stiefeln daherkommt, sondern im Tarnkleid der so genannten „Israelkritik“. → DIE ZEIT | → GSI
Dieser Antisemitismus ist heute wesentlich verbreiteter, hartnäckiger und in seiner Subtilität höchst gefährlich. Indem man aus den Nachkommen der Opfer von damals heute mit abstrusen Argumenten selbst Täter macht, fällt es viel leichter, die Vergangenheit vollkommen auszublenden und gefühllos und stumm zu bleiben, wenn das Mullah-Regime im Iran den Holocaust in unerträglicher Weise leugnet und damit droht, den Staat Israel aus der Landkarte auszuradieren und damit die sechs Millionen dort lebenden Juden zu vernichten.
Sie werden verstehen, dass im Bewusstsein der Juden in der ganzen Welt der Staat Israel die einzige Garantie dafür darstellt, dass sich ein Genozid am Jüdischen Volk nicht noch einmal wiederholen wird.
Deshalb stehen wir in Deutschland lebenden Juden auch fest zum jüdischen Staat im Nahen Osten, der unbestritten die einzige Demokratie in der Region ist und trotz der ständigen Bedrohung ein demokratisches Land geblieben ist.
Die Welt hat sich in den vergangenen 72 Jahren erheblich verändert: Wir haben einen Bundespräsidenten, der sich ausdrücklich als „Präsident aller Deutschen, auch der „muslimischen“ bezeichnet und eine Diskussion über die sog. Leitkultur, in der „jüdische Werte“ in einem Atemzug mit „christlichen Werten“ genannt werden.
Seit 1991 sind aufgrund des klaren politischen Willens der deutschen Regierung ca. 80.000 Juden aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland gekommen, um die dezimierten jüdischen Gemeinden wieder aufzubauen.
In Deutschland werden wieder Rabbiner ausgebildet, ordiniert und sie finden auch in neu entstehenden oder in gewachsenen alten Gemeinden eine Anstellung. Fast jedes zweite Jahr werden in Deutschland neue Synagogen oder Gemeindezentren eingeweiht. Es gibt wieder in vielen Städten jüdische Kindergärten und in mehreren Bundesländern wieder jüdische Schulen.
Die Zuwanderer haben in ganz Deutschland das Bild der jüdischen Gemeinden von Grund auf verändert. Diese Veränderungen haben große Integrationsprobleme mit sich gebracht, aber auch völlig unerwartete Chancen für einen Neuanfang jüdischen Lebens auf deutschem Boden eröffnet. Ohne diese Zuwanderung gäbe es in Deutschland heute schätzungsweise nur noch 15.000 Juden.
Die jüdischen Zuwanderer sind meist hoch qualifiziert, aber auch besonders hoch von Arbeitslosigkeit betroffen. Berufsabschlüsse der Herkunftsländer werden in Deutschland nicht anerkannt und meistens haben die Zuwanderer keine ausreichenden Sprachkenntnisse.
Ein Großteil der jüdischen Zuwanderer ist damit auf staatliche Transferleistungen angewiesen. Die Kinder der jüdischen, hoch qualifizierten Zuwanderer sind allerdings in der Regel bildungshungrig und aufstiegswillig. Dies zeigt der hohe prozentuale Anteil an Gymnasiasten in dieser Gruppe.
Es ist uns in den vergangenen 20 Jahren mit Hilfe der staatlichen Institutionen gelungen, sehr viel für die Integration dieser neuen Bürger zu erreichen. Die nächste Generation wird sich bereits hinsichtlich Sprache und Berufschancen von den hier Geborenen nicht mehr unterscheiden.
Die erheblichen Anstrengungen haben gefruchtet, in Frieden und Freiheit eine nachhaltig existierende, jüdische Gesellschaft mit der ihr eigenen Vielfalt in Deutschland aufzubauen. Das Experiment scheint zu gelingen. Die Zukunft wird zeigen, ob sämtliche Ziele erreicht werden können. Wenn dies gelingt, ist der Erfolg auch den vielen jüdischen und nichtjüdischen ehrenamtlichen Helfern zu verdanken. Es wäre wünschenswert, dass diese jungen Menschen in eine Welt entlassen werden, in der Chancengleichheit und Gewaltfreiheit herrschen und Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus nicht an der Tagesordnung sind. Von Albert Einstein stammt der Ausspruch:
„Die Welt wird nicht bedroht von Menschen, die böse sind, sondern von denen, die das Böse zulassen“.
65 Jahre Demokratie – und immer noch ist Zivilcourage die Ausnahme. Immer noch ist die Kultur des Nein-Sagens zu wenig entwickelt. Immer noch ist das Sich-Heraushalten erfolgreicher als der Widerspruch, die unbequeme Frage, die Kritik. Ihre Anwesenheit hier ist ein Beweis dafür, dass Sie sich die Worte von Albert Einstein zu Herzen genommen haben. Ich bin zuversichtlich, dass Sie nie wegschauen oder weghören werden. Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und Geduld.
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