Fortsetzung des Artikels von Israel Yaoz
Glückel von Hameln erwähnt die Kunde von Schabbatai Zwi (etwa 1670) folgendermaßen:
“Was für Freude herrschte, wenn man Briefe bekam, die von Schabbatai Zwi erzählten, ist kaum zu beschreiben. Die portugiesischen (jüdischen) jungen Gesellen haben sich allemal ihre besten Kleider angetan und sich grüne, breite Seidenbänder umgebunden – das war die Livree von Schabbatai Zwi – so sind sie alle “mit Pauken und Reigentänzen” in ihre Synagoge gegangen und haben mit einer Freude “gleich der Freude beim Wasserschöpfen”* die Schreiben vorgelesen.
Manche haben Haus und Hof und all das Ihrige verkauft, da sie hofften, jeden Tag erlöst zu werden. Mein seliger Schwiegervater, der in Hameln wohnte, ist von dort weggezogen, hat sein Haus und seinen Hof und alle guten Hausgeräte die darin waren, stehen lassen, und seine Wohnung nach Hildesheim verlegt. Von dort hat er uns hier her nach Hamburg zwei große Fässer mit Leinenzeug geschickt, darin waren allerhand Speisen, wie Erbsen, Bohnen, Dörrfleisch, Pflaumenschnitz und ähnlicher Kram und alles was sich gut hält. Denn der alte Mann hat gedacht, man würde ohne Weiteres von Hamburg nach dem Heiligen Land fahren.
Diese Fässer haben wohl länger als ein Jahr in meinem Haus gestanden. Endlich haben meine Schwiegereltern Furcht gehabt, das Fleisch und die übrige Sachen würden zu Grunde gehen. Da schrieben sie uns, wir sollten die Fässer aufmachen und die Esswaren herausnehmen, damit das Leinenzeug nicht zuschanden werde. So haben die Fässer wohl drei Jahre gestanden und mein Schwiegervater hat immer gemeint, er sollte sie zu seiner Reise brauchen. Aber dem Höchsten hat es noch nicht gefallen, uns zu erlösen. Wir wissen wohl, dass der Höchste es uns zugesagt hat, und wenn wir von Grund unseres Herzens fromm und nicht so böse wären, so weiß ich gewiss, dass sich unser Gott erbarmen würde. Wenn wir doch nur das Gebot hielten: “Liebe deinen Nächsten wie dich selbst”! Aber Gott soll sich erbarmen, wie wir das halten. Die Eifersucht, der grundlose Hass, der unter uns herrscht – das kann nicht gut sein.
Dennoch lieber Herrgott, was Du uns zugesagt hast, das wirst Du königlich und gnädiglich halten. Wenn es sich auch durch unsere Sünden so lange verzögert, so werden wir es gewiss haben, wenn Deine festgesetzte Zeit da ist. Darauf wollen wir hoffen und zu Dir beten, großer Gott, dass Du uns einmal mit der vollkommenen Erlösung erfreust….” ( Aus: Denkwürdigkeiten der Glückel von Hameln.)
*) “Wer die Freude beim Wasserschöpfen nicht erlebt hat, hat noch keine Freude erlebt.” (Talmud Sukkah 5,1)
Ein zweites Zitat, das ich erwähnen möchte, ist aus einem Buch, das man noch vor einigen Jahren in jeder Buchhandlung in Deutschland kaufen konnte (RO.RO.RO. Verlag und Fischer), der Titel: “Der Letzte der Gerechten” von Andre Schwarz-Bart. Der Schreiber nimmt als Motiv seiner Erzählung eine alte jüdische Legende der 36 Gerechten; 36 verborgene Gerechte, die diese Welt tragen. Keiner kennt sie, auch sie selber sind sich nicht bewusst von dem hohen Auftrag, den sie erfüllen, aber wenn auch nur Einer dieser 36 fehlen würde, würde die Welt in einer magischen Weise zusammenbrechen. Und so erzählt der Schreiber von dem Schicksal einer “Dynastie von Gerechten”, und was ihnen widerfahren ist, im Laufe von Jahrhunderten – angefangen von einem geschichtlichen Ereignis in York, England, im Jahre Des Herrn: 1185 ** bis dann der Letzte dieser Gerechten – so wie der Name dieses Romans – seinen Gastod in Auschwitz findet. Aber im Augenblick befinden wir uns im Jahre 1917 in Süd-Polen; Mordechai heißt der “Gerechte” dieser Generation; er ist einer der Vielen, die ihre Lebensaufgabe finden in dem Studium der Heiligen Schriften und der Entzifferung ihrer verborgenen Aspekte…
**) In diesem Jahr Des Herrn 1185, am 11. März, hielt der Bischof Wiliam von Nordhouse eine große Predigt, und mit dem Schrei “Gott will es!” strömte die Menge über den Vorplatz der Kirche; ein paar Minuten später legten die jüdischen Seelen dem Gott, der sie durch den Mund des Bischofs zu sich rief, Rechenschaft über ihre Sünden ab.
Einige Bewohner hatten sich, die Plünderung nutzend, in einem alten, unbewohnten Turm geflüchtet….
Am Morgen des siebenten Tages versammelte Rabbi Yom Tov Levy alle Belagerten auf der oberen Plattform des Turmes. “Brüder“, sprach er zu ihnen, „Gott hat uns das Leben geschenkt; lasst es uns ihm selber mit unseren eigenen Händen zurückgeben, wie das unsere Brüder in Deutschland getan haben.“
Männer, Frauen, Kinder und Greise, alle hielten ihre Stirn dem Segen seiner linken Hand hin und dann die Brust dem Dolchstoß seiner Rechten.
Der alte Rabbiner blieb allein vor seinem eigenen Tod.
(Es wurden auf der Plattform 26 Juden gezählt, wobei die Weiber und das kleine Gezücht nicht mitgerechnet sind.)
Der Rabbiner hielt noch den Griff des Dolches in der Hand, der seinen Hals durchstochen hatte. Diese Waffe war die einzige, die man im Turm fand.Der Schreiber gibt zwar zwei historische Quellen an, aber ich (I.Yaoz) der ich mich einigermaßen auskenne in der Geschichte meines Volkes, hatte von dieser Begebenheit nie gehört. Ich schrieb sie also der dichterischen Freiheit zu, die jedem Romanschreiber erlaubt ist. – Der Zufall wollte, dass ich im Jahre 1982 mit meinem jüngsten Sohn, der damals zwölf Jahre alt war, aus Israel in York auf Besuch war. Wir standen vor dem weltberühmten ’Cathedral’, und ich war wie gefesselt von seiner tektonischen Harmonie. Plötzlich unterbrach mich mein Junge, hinweisend auf den Boden auf dem wir standen: “Schau mal Papi, hebräische Buchstaben”! Und zu meinem Erstaunen war da eingraviert das oben geschilderte Drama, in goldenen Buchstaben.
…Gekleidet in seinen Kaftan, Seitenlocken, den traditionellen Bart, durchwandert Mordechai das Land, studiert mal hier mal dort in den verschiedenen Ortschaften, und wenn es dann passiert, dass er an einem Freitag irgendwo erscheint und sich selbstverständlich gegen Nachmittag zur örtlichen Synagoge begibt, die Juden dort sich reißen, um so einen Umherirrenden als Gastgeber einladen zu dürfen, damit er eine Unterkunft für den Heiligen Sabbat habe. Und so geschah es, dass dieser junge Mann, Mordechai, der Ehrengast wurde von dem Dorfrabbiner und wir befinden uns, nach dem Gottesdienst am Freitagabend-Tisch, bei der festlichsten Mahlzeit der Woche.
“Das Mahl war fürstlich; Mordechai hätte sich nichts Besseres erträumen können: Fischsauce, Rindsbraten, und eine köstliche Nachspeise aus gezuckerten Karotten. Mordechai gab sich ganz dem Entzücken über den guten Empfang hin… Als die Gastgeberin aber einen Teller mit Johannisbrot herumgehen ließ, da konnte er, sich mit komischer Miene auf den Bauch klopfend, nichts anders als sagen: Ach, Brüder, Brüder, ein Stück Johannesbrot, das hat paradiesischen Wohlgeschmack, das beschwört das Land Israel herauf; isst man es, so verschleiert sich der Blick, und man seufzt: Führe uns zurück in unser Land, O Herr, in die Gegend wo die Ziegen das Johannisbrot in Überfluss abweiden.
Diese Worte erweckte etwas im Geiste der Tischgenossen, und es begann das ewige Fragen: Wann wird der Messias kommen? Wird er sich auf einer Wolke nähern? Werden die Toten mit von der Reise (zum gelobten Land) sein? Und wovon wird man sich ernähren, da es heißt: An jenem Tage werde Ich für euch einen Bund mit den Tieren des Feldes schließen? Und wie können wir sein Kommen beschleunigen? fragte der Rabbiner, die Arme trostlos ausbreitend, schließlich.
Hier – wusste jeder der Gäste – erreichte die zweitausendjährige Diskussion ihren Höhepunkt, den Furcht erregenden Gipfel, von dem aus man die gesamte Schöpfung überblickte. “Man muss leiden”, begann ein zur Rechten des Rabbiners sitzender Greis, “leiden, abermals leiden, und immer wieder leiden, denn es steht geschrieben: Wir werden die Leiden der Welt tragen, werden ihre Schmerzen auf uns nehmen, und als bestraft, von Gott geschlagen und gedemütigt gelten,*** Dann erst, wenn Israel von den Kopf bis zu den Füßen, an all seinen Knochen, all seinen Geweben leidet, wenn es hingestreckt ist an allen Kreuzwegen, erst dann wird Gott einen Messias erstehen lassen…” “Leider”, schloss Herr Gruenspan, und seine Augen quollen dabei heraus, als habe er eine Vision dieser fürchterlichen zukünftigen Dinge, – „erst dann, nicht früher.”
“Herr Gruenspan”, piepste der Rabbiner, “lasst uns lieber von etwas Heiterem reden: Was gibt es Neues über den Krieg?” (1917 Erster Weltkrieg)
***) der leidende Gottesknecht: das Volk Israel
Das war der erste Weltkrieg – das war noch “heiter”! Und die Frage: “Wann wird der Messias kommen?” blieb eine Frage!
Der bekannte jiddische Schreiber Isaac Bashevis Singer (Nobelpreisträger) erwähnt in seinen vielen Erzählungen kaum den Holocaust; er geht ihm aus den Weg. Hier eine der wenigen Anspielungen, die er macht in einer Erzählung:
“Zu wem soll er jetzt noch kommen? … und als der Messias nicht zu den Juden kam, sind die Juden zum Messias gegangen…” (in Tischewitz)
Wenn wir uns die Frage stellen müssen, wieso das Judentum sich erhalten konnte durch alle Jahrhunderte, trotz Verfolgungen und Umherirren, dann war es die Gewissheit, dass einst die endzeitliche Erlösung kommen wird; ein langer, finsterer Tunnel, wo am anderen Ende ein Licht strahlte, das Licht der Erlösung. Wie ein roter Faden der Hoffnung, an dem man sich festhielt.
Eine chassidische Erzählung: Der Dorfrebbe hatte seiner Gemeinde eine Einladung geschickt zu der bevorstehenden Hochzeit seiner Tochter; es hieß darin:
- “Meine Tochter Lea wird am übernächsten Dienstag heiraten, und zwar um vier Uhr Nachmittag auf den Tempelplatz im erlösten Jerusalem; sollte aber der Messias bis dann nicht erschienen sein, dann wird die selbe Hochzeit um der selben Stunde in unserer Dorfsynagoge stattfinden.”
Neulich war ich Zeuge einer Hochzeit in Jerusalem, wo man dem Bräutigam etwas Asche auf die Stirne schmierte; als Zeichen der Trauer um das unerlöste Jerusalem.
Die erste Geste die der neu verheiratete Bräutigam verrichtet, noch während er sich unter der Chuppa (verdeutscht: “Haube”= Baldachin) befindet ist: er zerbricht ein kostbares Glas. Nicht weil Scherben Glück bringen, sondern, jetzt in dieser Stunde seines größten Glückes (Hoch-Zeit) zitiert er die Worte: “Wenn ich deiner vergesse Jerusalem, so möge meine Rechte verdorren, die Zunge möge mir am Gaumen kleben, wenn ich deiner nicht gedenke, wenn ich nicht Jerusalem setze über meine höchste Freude!” (Psalm 137 Verse 5 und 6)
Wenn ein Jude ein neues Haus baut, wo immer er lebt in dieser Welt, wird er eine Ecke (etwa einen Quadratmeter) einer der Räume ohne Verputz lassen; denn es gibt nichts Vollkommenes, solange Jerusalem nicht vollkommen ist.
Auch die täglichen Gebete handeln wiederholt von der Rückkehr der “Zerstreuten” nach Zion, von “Dein Reich komme“, von Recht und Gerechtigkeit auf Erden: “Kehre zurück mit Erbarmen in Deine Stadt Jerusalem und mache sie zu Deinem Wohnsitz, so wie Du verheißen hast, und erbaue sie bald in unseren Tagen, als ewige Stadt, und bereite den Thron Davids in ihr…”
(aus dem “Achtzehn-Gebet”, auch Amida, Schmone Esre oder Das Gebet [HaTefilah] genannt)
Aus all dieser Inbrunst ist schließlich der “Zionismus” im neunzehnten Jahrhundert geboren, wenn auch als politische, säkulare Bewegung. Der neugeborene Staat Israel hätte sich nie behaupten können gegenüber den massiven zerstörerischen Mächten, die diese Wiedergeburt vereiteln wollten (→Der erste arabisch-israelische Krieg / Bundeszentrale für politische Bildung), wenn nicht die latenten seelischen Kräfte aus der oben geschilderten Werdensgeschichte des Volkes geströmt wären. Der Judenstaat ist nicht entstanden als Folge des Holocaust, sondern trotz des Holocaust.
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